"Wir brauchen eine vierzehnjährige Schauspielerin mit 30-jähriger Berufserfahrung", hat schon mancher Regisseur geseufzt, der etwa "Die Jungfrau von Orleans" inszenieren wollte oder "Antigone". Nötig sind Erfahrung, um eine so komplexe Rolle zu verkörpern, und zugleich jugendliche Ausstrahlung - für jede Schauspielerin ein Wagnis.
Juliette Binoche ist es eingegangen: In einer europäischen Koproduktion spielt die 50-jährige Oscar-Preisträgerin, die mit ihrer Rolle in "Der englische Patient" weltweit bekannt wurde, die Antigone. Am Mittwochabend war die begeistert aufgenommene Premiere im Théâtre de la Ville in Luxemburg.
Setzt Binoche sich nicht der Gefahr aus, verspottet zu werden, weil sie das Spektrum der Rollen, die sie spielen kann, überschätzt? Kurz gesagt: Sie fügt sich ins Ensemble ein. Ihr Alter spielt kaum eine Rolle, bedeutsamer ist, dass sie Antigones Argumenten das Gewicht verleiht, das ihnen zukommt.
Diese Antigone ist kein Mädchen, das aus jugendlichem Trotz dem Herrscher widerspricht - Antigone bedenkt und begründet ihre Handlungsweise wohl, bereit, die Folgen zu tragen. Antigones Maxime "Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil" ist zum geflügelten Wort geworden. Die griechische Lichtgestalt verkörpert die abendländische Humanität. Genau darauf zielt Juliette Binoches Spiel.
Kreon ist Antigones Gegenspieler, Ideale stellt er hintan. Patrick O'Kane zeichnet Kreon als Realpolitiker. Er ringt um seine Herrscherautorität. Kreon hat befohlen, Polyneikes sterbliche Überreste sollen, weil er ein Verräter war, unbeerdigt bleiben. Antigone missachtet Kreons Verbot, gehorcht den Göttern, der Menschlichkeit und beerdigt den Bruder. Deshalb verurteilt Kreon Antigone zum Tod.
Regie führt der bekannte niederländische Regisseur Ivo van Hove. Er setzt stark aufs Wort. Der über 2000 Jahre alten Tragödie von Sophokles legt er eine neue Übersetzung von Anne Carson zu Grunde - jedes Wort ist genau gewogen, die Melodie der Verse sorgfältig nachgeformt. Das Ensemble spricht sorgsam, um jedem Satz seine Bedeutung zu geben, die Argumente prallen aufeinander. Bald wird deutlich, dass Antigone Recht hat, der Pragmatismus Kreons und seine Gewalttätigkeit stoßen ab.
Ivo van Hove unterstreicht mit heutigen Kostümen und Popmusik, dass das uralte Trauerspiel auch in unserer Gegenwart noch gültig ist. Und dass wir, obwohl wir wissen, dass Antigone Recht hat, dennoch die Kreons dieser Welt weiterwursteln lassen. Die Inszenierung endet mit dem Nachtbild einer illuminierten Metropole und schrillen, überlauten Dissonanzen.
Trotz einiger Überdeutlichkeiten ist die Inszenierung weithin geglückt. Das Publikum dankte es bei der Premiere am Mittwochabend mit rauschendem Beifall. Die Produktion wird unter anderem auf dem renommierte Edinburgh International Festival, in London und New York gezeigt.
Von Ulrich Fischer, dpa - Bild: Jean-Christophe Verhaegen/AFP