"Der Fremde" (L'Etranger) von Albert Camus, eines der bedeutendsten Werke des Existenzialismus, war der Ausgangspunkt des im vorigen Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romans "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" von Kamel Daoud. Daoud erzählt die Geschichte einer algerischen Familie von der Kolonialzeit bis heute. Der Bruder des bei Camus namenlosen Arabers, der von Meursault ermordet wurde, rechnet ab: mit dem Westen, mit der Religion, mit dem, was unserem Leben vermeintlich einen Sinn gibt.
Das ist die textliche Basis dieser mehrere Ausdrucksformen verbindenden Produktion von Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons. Fünf Darsteller spielen jeweils eine Dopperrolle, hinzu kommen eine Videoprojektion und vor allem Musik.
Und sie war der Ausgangspunkt der Inszenierung. "Unsere Arbeit hat eigentlich hauptsächlich am Anfang immer wieder damit zu tun, dass wir immer wieder die Musik hören und versuchen, mit den Texten innerhalb von dieser Musik umzugehen", sagt Sandra Hüller. "Das waren erstmal sehr ruhige Proben körperlich gesehen. Wir haben Musik gehört und ins informiert über Algerien und den Krieg dort, über Daoud und Camus. Wir haben sozusagen viele Nebenschauplätze aufgemacht."
"Ich mag das sehr. Das ist ungewöhnlich und auch eine andere Konzentration, eine andere Aufmerksamkeit, die man haben muss, wenn man nicht psychologisch arbeitet, sondern mit der Musik anfängt, sich zu bewegen. Auch innerlich. Ich finde das toll. Der Boden ist durch die Musik schon da, und es ist eine sehr emotionale Musik, was ich nicht so vermutet hätte. Ich kannte mich mit neuer Musik nicht so aus. Aber das löst ganz viel aus, wie ich dann im Probenprozess erfahren habe. Das war ganz spannend."
Mit dem ASKO/Schönberg Ensemble unter der Leitung von Reinbert de Leeuw stand in Marl sowie jetzt in Brüssel ein hervorragendes Kammerorchester auf der Bühne, das die ganze Bandbreite der Emotionen der Partituren zum Ausdruck brachte. Genau in der Mitte der gut eineinhalbstündigen Aufführung singt die Sopranistin Katrin Baerts Claude Viviers "Bouchara" auf einen Text in Fantasiesprache.
Diese Szene war in Marl bei der Ruhrtriennale, wo in der Zeche Auguste Victoria gespielt wurde, natürlich anders gestaltet als jetzt in Brüssel. Dort wurde eine große Maschine mit in das Stück eingebunden. "Hier haben wir jetzt nur noch uns, die Musik und die Videoarbeiten", sagt Sandra Hüller.Und diese Videoarbeiten ergeben mit der Musik, dem Text und dem Schaupiel eine in sich verbundene Einheit.
Die Dokumentaraufnahmen, die den ersten Teil der Inszenierung begleiten, der die Sicht Harouns, also des Bruders des ermordeten Arabers aus Camus' Roman in den Mittelpunkt rückt, sind Bilder aus der Welt der Kolonialzeit. Im zweiten Teil sehen wir inszenierte Bilder von einem aktuellen Flüchtlingslager. Es sind Bilder, die einen lange nicht loslassen. In das zunächst noch realistische Szenario eines Lagers mischen sich immer bizarrere Details. So sieht man Kinder, die fast wie Krieger über die in ihren Feldbetten schlafenden Insassen klettern. Allerdings scheinen sich die Welten zu vermischen, denn auch die Polizisten und Flüchtlingshelfer wirken wie Menschen mit Migrationshintergrund.
Besonders gelungen ist an dieser Produktion, dass weder das Schauspiel noch die Musik oder die Videos einander überlagern, jedes Element kann für sich selber stehen, aber gerade in dieser Verbindung ergibt sich eine Kraft, die auch im weiten Rund des Palais des Beaux Arts nichts an Intensität verliert. Dazu tragen auch die fünf Schaupieler bei.
Die Internationale Theaterreihe von Bozar, KVS und Theatre National wird in den nächsten Monaten noch Produktionen unter anderem aus Estland, Ägypten, Deutschland, Bolivien, dem Iran und der Slowakei zeigen.
hr/km - Bild: Jules August/Bozar