Ein aufgebrachter Mob gerät in Rage, als sich von weitem ein schwarzer Volvo nähert. Steine fliegen, nur Absperrungen und mehrere Polizisten können die Menschen von Lynchjustiz abhalten. Der Wagen biegt ein in die Einfahrt eines Klosters. Dort entsteigt dem Fahrzeug ein Mann. In der TV-Serie "Ennemi Public" heißt der Mann Guy Bérenger. Er verkörpert filmisch zwei Figuren, die Mitte der 1990er Jahre einer ganzen Nation ein Trauma zugefügt haben: Marc Dutroux, der kleine Kinder ermordet und missbraucht hat, und seine Komplizin Michelle Martin.
Im Film ist Bérenger der Haupttäter. Fünf kleine Jungen hat er ermordet. Er wird, wie Michelle Martin in der Wirklichkeit, vorzeitig und unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen. Auch Martin fand 2012, wie im Film Bérenger, nur in einem Kloster in der kleinen wallonischen Gemeinde Malonne eine vorläufige Unterkunft. Auch damals unter starkem Protest der Dorfbewohner. Bei diesen wecken die Szenen aus "Ennemi Public" Erinnerungen: "Wenn ich diese Bilder sehe, denke ich an den Abend, wo sie hier bei uns angekommen ist, an die Proteste der Menschen, die sich gegen ihre Ankunft wehren wollten", sagte eine Bewohnerin aus Malonne.
Durchaus realistisch also das, was "Ennemi Public" dem Zuschauer bietet. Das ist natürlich gewollt. Regisseur Matthieu Frances erklärt das für die Anfangsszene wie folgt: Er wolle uns alle hinterfragen. "Was machen wir, was macht eine Gesellschaft mit solchen Personen, die ihre Gefängnisstrafe abgesessen haben, zumindest nach belgischem Gesetz? Die Gesellschaft hat nichts für solche Personen vorgesehen. Und deshalb müssen im Fall von Michelle Martin Nonnen, in unserem Film Mönche Lösungen vorschlagen, damit diese Personen eine Chance bekommen, sich wieder eine Zukunft zu gestalten. Damit sie nicht einfach gelyncht oder sonstwie entsorgt werden."
Aber ist das Spiel, die filmische Fiktion, das Auflebenlassen des Traumas vieler Belgier, eine gute Sache? In Malonne sind nicht alle dieser Meinung. "Die Szene von Michelle Martin so neu zu drehen, ist keine gute Idee. Das alles liegt zu weit zurück, man muss das auch mal ad acta legen, nach vorne schauen", so ein Mann aus Malonne.
Anders sieht das der Mann, der Michelle Martin nach ihrem Aufenthalt bei den Nonnen im Klarissenkloster auf seinem Hof aufgenommen hat. Der ehemalige Richter Christian Panier findet: "Wenn diese Szenen Anlass dafür sind, über die ganze Sache neu nachzudenken, und das ist ja laut Aussage der Macher von "Ennemi Public" die Motivation dieser Szenen, dann ist das ein Fortschritt. Das wird viele Personen, die damals, als Martin bei den Klarissen angekommen ist, oder vor gut einem Jahr zu mir nach Hause gezogen ist, und die damals so laut aufgeschrien haben, das wird diese Personen zum Nachdenken bringen. Und das ist meines Erachtens ja die große Aufgabe der Kultur, der Kunst."
Preise
In Belgien soll der Film Anlass zum Nachdenken geben - im Ausland wird man die Anspielungen auf den Fall Michelle Martin wahrscheinlich weniger gut verstehen. Was aber der Serie keinen Abbruch tun sollte. Die Szenen aus der ersten Folge entsprechen hohem internationalem Niveau, erste Preise hat "Ennemi Public" auch schon eingefahren. Auf einem Festival in Paris wurde der männliche Hauptdarsteller Angelo Bison ausgezeichnet, in Cannes bekam die Serie den Jury-Preis "Coup de Coeur" eines europäischen Serien-Festivals.
Was die Serie trotz aller gewollten Aufklärungsarbeit aber nicht leisten wird: den Ruf Belgiens als Land der Kinderschänder zu schmälern. Dieses traurige Klischee wird durch den Film eher verstärkt. Ein Moll-Klang bei einer sonst ziemlich vielversprechenden Produktion. Zumindest nach dem ersten Teil.
Die weiteren Teile von "Ennemi Public" werden jeweils sonntagsabends im Fernsehen auf La Une ausgestrahlt.
Kay Wagner - Bild: Nicolas Velter