Die harsche Realität hat längst das Kino erreicht. Immer wieder stehen in Filmen Menschen im Mittelpunkt, die in ihrem Leben straucheln oder gegen den Absturz kämpfen müssen. Das war auch beim diesjährigen Internationalen Filmfest Venedig zu spüren, viele der Beiträge bildeten die krisengeschüttelte Wirklichkeit ab. Da erscheint es dann auch konsequent, dass die Jury nun eine Dokumentation mit dem Goldenen Löwen auszeichnete - und damit eine große Überraschung bot. Denn mit "Sacro GRA" um das Leben am römischen Autobahnring gewann zum ersten Mal in der Festivalgeschichte ein Dokumentarfilm die höchste Auszeichnung.
Schon die italienische Regielegende Federico Fellini verewigte die Mammutautobahn GRA, die sich um Italiens Hauptstadt wie eine Schneise in die Landschaft schneidet, in einem Film und inszenierte dort in "Fellinis Roma" einen riesigen Stau. Regisseur Gianfranco Rosi wählt jetzt einen anderen Zugang und zeigt reale Menschen, die tatsächlich an dieser Schnellstraße leben und arbeiten.
Da sind Rettungssanitäter, die Unfallopfer bergen. Prostituierte, die auf einem Parkplatz auf Kunden warten. Bewohner von Häusern, an denen die Autos vorbeirasen. "Endlich steht der Dokumentarfilm auf Augenhöhe mit Spielfilmen", jubelte Rosi bei der Preisverleihung am Samstagabend. "Dokumentation ist Kino." Er widme den Preis seinen Darstellern, "die mich in ihr Leben haben eintreten lassen".
Allerdings ist "Sacro GRA" kein klassischer Dokumentarfilm. Denn während die Protagonisten in diesem Genre sonst direkt in die Kamera sprechen, fehlt diese Struktur bei Rosi. Stattdessen filmt er seine Protagonisten im Alltag aus einer beobachtenden Perspektive, so dass diese teilweise wie die Schauspieler eines Spielfilms wirken. So ungewöhnlich diese Form auch ist - kaum einer der Kritiker hatte mit "Sacro GRA" als Gewinner gerechnet. Schließlich kommt Rosi seinen Figuren nicht wirklich nah, sondern bleibt eher an der Oberfläche.
Länder Südeuropas von Jury favorisiert
Dennoch scheinen die Entscheidungen der Jury vor allem die krisengebeutelten Länder Südeuropas zu favorisieren. Immerhin wurde noch die italienische Schauspielerin Elena Cotta für das die sizilianische Gesellschaft entlarvende Stück "Via Castellana Bandiera" ausgezeichnet. Und auch das griechische Familiendrama "Miss Violence", das mit seiner emotionalen Lethargie wie eine Parabel auf die derzeitige Lage des Landes wirkt, gewann gleich zwei Trophäen: für die Regie und den Hauptdarsteller.
Andere Werke des Wettbewerbs waren in ihrer Gesellschaftskritik und Darstellung verlorener Seelen jedoch eindringlicher und blieben stärker in Erinnerung. Dazu zählte beispielsweise das Drama "Jiaoyou (Stray Dogs)", in dem der frühere Goldene-Löwen-Gewinner Tsai Ming-liang vom Überlebenskampf eines Vaters und dessen Kindern erzählte. Dafür gab es nun immerhin den Großen Preis der Jury.
Auch "Die Frau des Polizisten" des Deutschen Philip Gröning prägte sich nachhaltig ein und wurde in Venedig mit dem Spezialpreis der Jury belohnt. Der 54-jährige Regisseur fokussierte sich auf die unheilvolle Gewaltbeziehung eines jungen Paares. In rund drei Stunden Zeit und in knapp 60 Kapitel unterteilt, wurde das Werk um Schläge in der Ehe so zu einer Studie menschlicher Abgründe - für Zuschauer in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung.
Doch selbst wenn nicht alle Jury-Entscheidungen immer ganz nachvollziehbar sind, so kann das Festival auf eine erfolgreiche 70. Ausgabe zurückblicken. Das war vor allem Alberto Barbera zu verdanken, der die Leitung im vergangenen Jahr übernahm und nun einige Veränderungen durchsetzte. Dazu gehörte auch die Konzentrierung auf das Wesentliche: ein starkes Programm.
Das ist wichtiger denn je. Denn die Konkurrenz durch andere Festivals und neue Sehgewohnheiten wächst. Barbera aber hat verinnerlicht, dass Festivals mit ihren Wettbewerben noch immer ein wichtiges Forum für das Arthousekino abseits der Hollywoodblockbuster sind - und dass dafür die Mischung aus altbekannten Regisseuren und Neuentdeckungen genauso wichtig ist wie die Strahlkraft von Stars wie George Clooney, Sandra Bullock, Scarlett Johansson und Nicolas Cage. All das gab es in diesem Jahr.
Belgischer Kurzfilm ausgezeichnet
Den Goldenen Löwen für den besten europäischen Kurzfilm erhielt ein Beitrag aus Belgien. Ausgezeichnet wurde der Film "Houses With Small Windows" des flämisch-kurdischen Regisseurs Bülent Öztürk. Durch den Preis ist der Film automatisch für den Europäischen Filmpreis nominiert. Der Film erzählt die Geschichte eines Ehrenmordes im Kurdengebiet im Südosten der Türkei.
Öztürk kam in den 1990er Jahren als kurdischer Flüchtling nach Belgien. Später studierte er an der Erasmus-Hochschule für Künste in Brüssel.
Aliki Nassoufis, dpa/belga/sh - Bild: Tiziana Fabi (afp)