Wer die Filme mit Tilda Swinton kennt, der weiß, dass die mutige englische Schauspielerin nichts lieber tut als ihre Zuschauer herauszufordern, sich mit den ungewöhnlichen und schwer auszuhaltenden Seiten des Lebens auseinanderzusetzen.
Wenn sie Gastauftritte in Hollywood-Produktionen übernimmt wie in "Die Chroniken von Narnia", "Der seltsame Fall des Benjamin Button", "Burn after Reading" oder "Michael Clayton" (Oscar als beste Nebendarstellerin), dann fühlt sie sich wie im Urlaub.
Ihr eigentliches künstlerisches Schaffen stellt sie in den Dienst schwieriger Stoffe, die Hollywood nicht mit der Kneifzange anfassen würde. Diesmal spielt sie eine Mutter, die von Schuldgefühlen geplagt wird und regelmäßig ihren Sohn im Gefängnis besucht.
Wir wissen nicht, was passiert ist. Erst nach und nach erfahren wir durch verschiedene Rückblenden, wie aus einer wohlsituierten Vorzeigefamilie eine Brutstätte des Horrors geworden ist.
Wenn Sie die erste halbe Stunde des Films mit ihren merkwürdigen Farb- und Stimmungsassoziationen überstehen (Ich war nahe dran, das Kino zu verlassen!), findet der Film plötzlich zu seinem Thema und übt eine immer stärker werdende Faszination aus. Es ist der Regisseurin anzurechnen, dass sie am Ende nicht alles zeigt, sondern im Gegensatz zum Anfang des Films dem Zuschauer die Freiheit lässt, sich seine eigenen Bilder im Kopf zu machen (oder auch nicht).
Am besten, Sie wissen über die Geschichte so wenig wie möglich und lassen sich einfach manipulieren. Die Schauspieler sind hervorragend, die Swinton natürlich, dann der allgemein sehr unterschätzte John C. Reilly und zwei Newcomer, die den Sohn in verschiedenen Altersstufen spielen: Ezra Miller und Jasper Newell.
Bei den Oscars werden sie allerdings kaum Chancen haben. Wie letztes Jahr in "Io sono l’amore" lebt Tilda mit diesen Filmen auf einem Planeten, den die Oscar-Juroren nur selten besuchen.
Frank Vandenrath - Bild: Nicole Rivelli (epa)