Fassen wir zusammen: In seltener Einmütigkeit hatten sich die meisten Kritiker darauf geeinigt, dass "The Social Network", die bittersüße Erfolgs-Story des Facebook-Erfinders Marc Zuckerberg, der beste Film des Jahres war.
Doch als die Berufsverbände in Hollywood begannnen, ihre Preise zu verleihen, tauchte plötzlich aus dem Hinterhalt ein stotternder König auf und wurde mit 12 Oscar-Nominierungen der Favorit des Rennens.
Das Phänomen, dass immer seltener klassische Oscar-Filme gedreht werden, nämlich Filme, die sowohl die Kritik als auch einen großen Teil der Kinogänger begeistern können (wie z.B. “Out of Africa”, “Der mit dem Wolf tanzt”, “Schindlers Liste” oder “Titanic”), hatte in den letzten Jahren dazu geführt, dass Oscar sich immer öfter für kleine alternative Filme entschieden hatte statt sein Herz seelenlosen Blockbustern zu schenken.
Dieser Logik entsprechend bot sich “The Social Network” als würdiger Nachfolger von “The Hurt Locker”, “Slumdog Millionaire”, “No Country for Old Men”, “The Departed”, “Crash” und “Million Dollar Baby” an.
Wie schön war es doch früher ...
Doch "The King's Speech" hat bei vielen nostalgischen Mitgliedern der Academy die Erinnerungen an die guten alten Zeiten geweckt, als Oscar sein Heil in Geschichten aus vergangenen Zeiten suchte und sich nicht der manchmal deprimierenden Realität von heute stellen musste.
In der Tat waren die letzten sechs Oscar-Gewinner in der Gegenwart angesiedelt, während man "früher" ohne schlechtes Gewissen die historischen Epen bevorzugen durfte. Und wenn denn mal wieder eins des Weges kommt, dann stürzt man sich ausgehungert darauf, ohne näher zu überprüfen, ob es sich denn tatsächlich um einen guten Film handelt oder nicht.
Müsste "The King's Speech" gegen “Out of Africa”, “Der mit dem Wolf tanzt”, “Schindlers Liste” oder “Titanic” antreten, glaube ich nicht, dass er auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte.
Das Comeback der Nostalgie
Somit scheint gesichert zu sein, dass "The King's Speech" am Sonntag bester Film wird und Colin Firth den Hauptrollen-Oscar erhält, den er letztes Jahr für "A Single Man" verpasst hat. Der Rest hängt davon ab, wie sehr die Academy den Film liebt.
Zwei Szenarien sind möglich: Entweder gewinnt der Film so ziemlich alles, wofür er nominiert wurde, oder die Fraktion der Nicht-von-der-Nostalgie-Geblendeten schafft es, in verschiedenen Kategorien andere Akzente zu setzen.
Variante 1
Bester Film: The King's Speech
Beste Regie: Tom Hooper (The King's Speech)
Bester Hauptdarsteller: Colin Firth (The King's Speech)
Beste Hauptdarstellerin: Natalie Portman (Black Swan)
Bester Nebendarsteller: Geoffrey Rush (The King's Speech)
Beste Nebendarstellerin: Helena Bonham Carter (The King's Speech)
Bestes Originaldrehbuch: The King's Speech
Bestes Drehbuch nach einer Vorlage: The Social Network
Beste Kamera: Danny Cohen (The King's Speech)
Beste Musik: Alexandre Desplat (The King's Speech)
Variante 2
Bester Film: The King's Speech
Beste Regie: David Fincher (The Social Network)
Bester Hauptdarsteller: Colin Firth (The King's Speech)
Beste Hauptdarstellerin: Natalie Portman (Black Swan)
Bester Nebendarsteller: Christian Bale (The Fighter)
Beste Nebendarstellerin: Melissa Leo (The Fighter) oder Hailee Steinfeld (True Grit)
Bestes Originaldrehbuch: Inception
Bestes Drehbuch nach einer Vorlage: The Social Network
Beste Kamera: Roger Deakins (True Grit) oder Wally Pfister (Inception)
Beste Musik: Trent Reznor und Atticus Ross (The Social Network)
Das Ganze dürfte relativ schnell klar sein: Gewinnt "The King's Speech" am Beginn des Abends Oscars in technischen Kategorien oder bei den Nebenrollen, wird er alles absahnen. Ist das nicht der Fall, dürfte die Verleihung abwechslungsreicher verlaufen.
Für die Statistiker
Hier die Ausbeute der Filme, die in den letzten 30 Jahren 12 oder mehr Nominierungen erhalten haben:
The Curious Case of Benjamin Button: 13 Nominierungen - 3 Oscars - nicht bester Film
Chicago: 13 - 6 - bester Film
The Lord of the Rings: The Fellowship of the Ring: 13 - 4 - nicht bester Film
Gladiator: 12 - 5 - bester Film
Shakespeare in Love: 13 - 7 - bester Film
Titanic: 14 - 11 - bester Film
The English Patient: 12 - 9 - bester Film
Forrest Gump: 13 - 6 - bester Film
Schindler's List: 12 - 7 - bester Film
Dances with Wolves: 12 - 7 - bester Film
Reds: 12 - 3 - nicht bester Film
Es gibt also alle möglichen Varianten.
Die Filme mit den meisten Oscars sind:
- 11 Oscars: "Titanic", "Ben Hur" und "The Lord of the Rings: The Return of the King"
- 10 Oscars: "West Side Story"
- 9 Oscars: "The English Patient", "Gigi" und "The Last Emperor"
Wir sind gespannt, zu erfahren, welchen Platz "The King's Speech" in dieser Statistik einnehmen wird.
Frank Vandenrath - Bilder: epa