Mit seinem rasierten Schädel und dem Kinnbärtchen ist Ben Kingsley eigentlich unverkennbar. Trotzdem schafft er es, glaubhaft in zum Teil entgegengesetzte Rollen zu schlüpfen. Seine Verwandlung findet in der Maske vor den Dreharbeiten statt: "Ich öffne meine Augen. Ich schaue in den Spiegel, ich sehe meinen Charakter, und dann gehe ich weg und mein Gesicht verändert sich", erklärte er dem "Guardian". "Ich ziehe keine Grimassen, mein Gesicht verändert sich. Etwas in mir muss ausgedrückt werden."
An Silvester (31. Dezember) feiert Sir Ben Kingsley seinen 75. Geburtstag. Geboren wurde er als Krishna Bhanji in Scarborough, und irgendwie ist es kein Wunder, dass er so viele unterschiedliche Charaktere gespielt hat: Sein Vater war Allgemeinarzt indischer Abstammung, Muslim und trank sich zu Tode. Seine Mutter war Schauspielerin und Model, die vernachlässigte Tochter eines jüdischen Russen und einer Lumpenhändlerin aus dem Londoner East End. Kingsleys Eltern erwarteten, dass er Medizin studieren würde wie sein älterer Bruder. Doch der junge Krish hatte andere Pläne.
Als der Fünfjährige in einem Kino Beifall erhielt, weil er mit dem Kinderstar verwechselt wurde, flüchtete er sich in eine Fantasiewelt: "Ich habe nicht mit imaginären Menschen gesprochen oder hatte einen Teddybären", beschrieb er der "Daily Mail". "Ich hatte ein unsichtbares Filmteam, das mir überallhin folgte und jede meiner Gesten in Großaufnahme festhielt."
Als seine Mutter 2010 mit 96 Jahren starb, beantwortete er zum ersten Mal Fragen nach seiner Kindheit. Er habe sich danach gesehnt, von seinen Eltern anerkannt zu werden. "Wann immer ich auftrat und meine Eltern im Publikum waren, bekam ich nichts zurück, null Feedback, was schwer zu bewältigen war", sagte er damals dem "Independent".
Im "Guardian" machte er kein Hehl daraus, dass der Ritterschlag durch die Queen 2002 ihn für die mangelnde Elternliebe entschädigte: "Das Schöne an der Ehrenliste ist, dass die Regierung und die Monarchin im Namen der Öffentlichkeit sagen: "OK, wir lieben dich sehr." Und es ist außergewöhnlich, dieses Gefühl."
Als er für die ersten Rollen vorsprach, wurde er schon wegen seines ungewöhnlichen Namens abgelehnt. Sein Vater schlug ihm vor, sich einen englischen Bühnennamen zu suchen. Der Spitzname "King Clove" (dt: König Nelke) seines Großvaters, einem Händler, inspirierte sie schließlich zu "Kingsley". "Sobald ich meinen Namen änderte, bekam ich die Jobs", sagte Kingsley später der "Radio Times".
Mit 19 - da trat er schon in der Seifenoper "Coronation Street" auf - fuhr er nach Stratford-upon-Avon, um Ian Holm als Richard III. in einer Shakespeare-Produktion zu sehen. Er stand im Theater ganz hinten und kopierte sogar seinen Gang quer über die Bühne. Zwei Jahre später stand er für die Royal Shakespeare Company auf der Bühne in Stratford-upon-Avon, spielte Hamlet und später Othello. Schließlich fiel er Richard Attenborough auf, der ihn als Gandhi für seinen gleichnamigen Film besetzte. Für diese Rolle erhielt Kingsley 1983 seinen bisher einzigen Oscar.
Nominierungen für "Bugsy" (1991), den Soziopathen in "Sexy Beast" (2002) und als iranischer Einwanderer in "Haus aus Sand und Nebel" (2003) folgten. Dabei ist ihm nicht wichtig, dass das Publikum seine Rolle mag - im Gegenteil, verriet er dem "Guardian": "Gandhi ist äußerst unsympathisch. Ein verdammt störrischer Kerl. David Kapesh (seine Rolle als Schürzenjäger in "Elegy oder die Kunst zu Lieben") kann Dummköpfe nicht ausstehen. Ich möchte, dass mein Charakter gesehen, verstanden wird, nicht geliebt."
Der Weltstar arbeitet gerne mit Nachwuchsregisseuren an preisverdächtigen Filmen. Aber genauso er nahm immer wieder Rollen in Blockbustern wie "Thunderbirds" (2004), "Der Love Guru" (2008) und "Iron Man 3" (2013) an, auch wenn er es danach bereute. Um Geld zu verdienen, erklärte er dem "Guardian": "Ein Schauspieler muss weiter arbeiten. Ich habe viele Familienangehörige. Es muss einen Cashflow in Richtung Ben geben! Manchmal war es unverantwortlich, das Geld nicht zu nehmen, aber der Direktor war ein Hund. Ein Hund."
Selbst mit über 70 dreht er noch einen Film nach dem anderen. Im Oktober kam "Intrigo - Tod eines Autors" in die Kinos und bei Amazon Prime führt er durch die Doku-Serie "All or Nothing - Manchester City" - schließlich ist er in Manchester aufgewachsen. Demnächst wird er den Surrealisten Salvador Dali im Film "Dali Land" verkörpern.
Netflix zeigt ihn gerade als Adolf Eichmann in "Operation Finale" (2018). Der Film erzählt, wie der israelische Geheimdienst Mossad den ehemaligen SS-Obersturmbannführer, der die Massendeportationen der Juden in die Vernichtungslager organisiert hatte, aus Argentinien entführt. Kingsley widmete seine Performance dem verstorbenen Nobelpreisträger, Autor und Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel.
Immer wieder setzt sich Kingsley mit den Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus auseinander: 1989 porträtierte er den Nazi-Jäger Simon Wiesenthal im Film "Recht, nicht Rache", 1993 folgte der Buchhalter Itzhak Stern in Steven Spielbergs "Schindlers Liste", danach Otto Frank in der Miniserie "Anne Frank" (2001).
Am wichtigsten ist ihm, dass sich Zuschauer und Theaterpublikum in seinen Darstellungen verstanden fühlen und wiederfinden, ob er nun ein Monster spielt oder einen Heiligen. "Als Schauspieler kann ich meine Hand auf die Schuler eines anderen legen und sagen, "Ich weiß"", sagte er der "Radio Times". "Das ist das einzige, was wirklich zählt."
Von Uli Hesse, dpa