Überraschung zum Finale des 70. internationalen Filmfestivals in Locarno: Der Hauptpreis, der "Goldene Leopard", ging an die Dokumentation "Mrs. Fang" des chinesischen Regisseurs Wang Bing. Das gab die Jury unter Vorsitz des französischen Regisseurs Olivier Assayas ("Carlos - Der Schakal") am Samstag bekannt. Der Film beobachtet das Sterben einer an Alzheimer leidenden alten Frau.
Die Wettbewerbsjury hat vielfach an den Erwartungen vorbei entschieden. Am augenfälligsten ist das bei den Ehrungen der besten Schauspieler. Hoch gehandelt worden waren die Deutsche Johanna Wokalek in "Freiheit" und der US-Amerikaner Harry Dean Stanton in "Lucky". Ausgezeichnet wurden die Französin Isabelle Huppert als zickige Lehrerin in "Madame Hyde" (Frankreich/Belgien) und der Däne Elliott Crosset Hove als gewalttätiger Arbeiter in "Winterbrüder" (Dänemark/Island).
Und auch das Publikum hielt es wie die Wettbewerbsjury und überraschte mit einer weniger erwarteten Entscheidung. Die Zuschauer gaben ihre Auszeichnung an die leichtgewichtige US-amerikanische Komödie "The Big Sick".
Die Vergabe des Spezialpreises der Jury an den brasilianisch-französischen Spielfilm "Gute Manieren" (Regie: Juliana Rojas, Marco Dutra) fand einhellig Beifall. Das Drama erzählt vom Leben einer jungen Frau und ihres angenommenen Sohnes, der sich bei Vollmond in einen Werwolf verwandelt. Der Film entspricht genau der auf dem Festival in Locarno gern gepflegten Balance von Unterhaltung und Anspruch.
Das trifft auch auf "Neun Finger" des Franzosen F.J. Ossang zu. Er wurde als bester Regisseur gekürt. Sein surrealer Spielfilm überzeugt sowohl als Parabel auf die bürgerliche Gesellschaft als auch als rätselhafter Thriller. Ossang gehört zu den Filmschaffenden, die das Festival von Locarno besonders fördern möchte: Künstler, die nach neuen Ausdrucksformen für das Kino suchen.
Von Peter Claus, dpa - Bild: Locarno International Film Festival/AFP