Netter Treffpunkt: Richard Jury von Scotland Yard wartet in einer vornehmen Bar im 42. Stockwerk eines Hochhauses im Londoner Finanzdistrikt auf Tom Williamson. Prompt fühlt sich der Inspektor an Hitchcock erinnert, denn die Bar hoch oben über den Dächern der englischen Hauptstadt trägt den Namen Vertigo 42 - "Vertigo", wie einer von Hitchcocks besten Filmen heißt - und im Original das neue Buch der Amerikanerin Martha Grimes. Seit wenigen Tagen ist der 23. Inspektor-Jury-Krimi nun auch auf Deutsch erhältlich allerdings unter dem Titel "Inspektor Jury und die Frau in Rot".
Die Autorin, die am 2. Mai ihren 85. Geburtstag feiert, schickt ihren liebenswerten Polizisten mal wieder in die Spur. Dieses Mal in eine schon fast verblasste. Williamson kann mit dem angeblichen Unfalltod seiner Frau vor über 17 Jahren auf einem Landgut abseits von London nicht abschließen und bittet Jury, sich noch einmal damit zu befassen. Obwohl es nicht das Revier des Inspektors ist und der Fall längst zu den Akten gelegt wurde, sagt Jury zu - sozusagen als Freundschaftsdienst.
Tess Williamson war seinerzeit eine große Steintreppe herabgestürzt, mit tödlichen Folgen. Ebenso wie ihr Mann und der damals ermittelnde Polizist glaubt auch Jury schon bald nicht mehr an einen Unfall. Mehr noch: Dem Unglück fünf Jahre vorausgegangen war ein ähnlich gelagerter Vorfall. Damals war genau auf dem Landgut der Williamsons ein Mädchen in ein leeres Steinbecken zu Tode gestürzt. Jury ist davon überzeugt: Die beiden Ereignisse hängen zusammen.
Wie immer bezieht der Inspektor auch dieses Mal seinen adligen Freund Melrose Plant mit in die Ermittlungen ein. Doch auf dem Weg zu ihm stolpert er geradezu über die Leiche einer jungen Frau im roten Kleid. Sie war aus dem oberen Fenster eines Turms gefallen. Hier stellt sich ebenfalls die Frage: Unfall, Selbstmord oder Mord? Und auch aus diesem Fall kann Jury sich nicht heraushalten. Er forscht nach und mit ihm sein Freund und die ganze schräge Gesellschaft zwischen Ardry End, Sidbury und Long Piddleton, die die Fans der Krimi-Reihe bereits aus den früheren Bänden der Autorin kennen. Was ein kaum überschaubares Wirrwarr schafft und Jury vor immer mehr Rätsel stellt.
Seine vordringlichste Aufgabe sieht er nun darin, fünf Zeitzeugen zu finden, die damals noch Kinder und dabei waren, als das Mädchen ums Leben kam. Er wird sie finden, und natürlich wird er den Fall lösen, mit tatkräftiger Unterstützung seiner Freunde, die sich an Schrulligkeit wieder einmal gegenseitig zu überbieten scheinen. Eine Gratwanderung, die Grimes gerade noch ausbalancieren kann. Exzentrische Typen, witzige Kommentare, skurrile Aktionen, warmherzige Protagonisten - vorneweg Jury selbst - und ein interessanter Plot stehen auf der Plusseite dieses Buches.
Aber es gibt einiges, das nicht überzeugt. Ist es denn möglich, dass sich die Polizei andernorts erfreut die Einmischung eines Kollegen von Scotland Yard gefallen und sich dadurch auch noch die eigene Unzulänglichkeit vor Augen führen lässt? Wohl kaum. Nicht alles ist schlüssig in diesem insgesamt doch sehr spannenden Unterhaltungsroman. Und manchmal hat man Mühe, der Logik der Autorin zu folgen. Vor allem, wenn sich der Sinn eines Satzes oft erst einige Seiten später erschließt.
Am auffälligsten aber ist die Überbetonung des angeblich typisch Britischen. Mag sein, dass Martha Grimes als Amerikanerin meint, nur so zu überzeugen. Letztendlich aber erreicht sie damit das Gegenteil. Von überstrapazierten Tea-Times, Roastbeef und Yorkshire-Pudding mal abgesehen - es wird eindeutig zu viel gesoffen in diesem Buch. Und zwar von früh bis spät. Als "Stellvertreter-Effekt" hat das Grimes einmal selbst bezeichnet. Sie ist - wie sie bekennt - trockene Alkoholikerin, was wiederum sehr mutig ist. Zumal sich die Autorin ihre Inspiration in Pubs holt, bei einem Glas Mineralwasser.
Was sicher nicht alle ihre Leser wissen: Die Originaltitel der Vorgängerkrimis beruhen samt und sonders auf echten britischen Pub-Namen. "Vertigo 42" ist eine Ausnahme, wobei sich die Anleihe bei Hitchcock wirklich nur auf den Sturz der Frau vom Turm und den Originaltitel beschränkt.
Martha Grimes: Inspektor Jury und die Frau in Rot
Goldmann Verlag, München
416 Seiten, 19,99 Euro
ISBN 978-3-4423-1401-0
Von Frauke Kaberka, dpa - Cover: Goldmann