Es war wohl eine Herzensangelegenheit von Ruth Rendell, noch einmal gegen Homophobie und Engstirnigkeit mit literarischen Mitteln ins Feld zu ziehen. 2012 schrieb die 2015 im Alter von 85 Jahren gestorbene bekannte Britin unter dem Pseudonym Barbara Vine den Psychothriller "Kindes Kind". Nun erschien er auch in deutscher Sprache - und enttäuschte.
Die Erwartungen waren wohl zu hoch. Immerhin zählte die 1997 von der Queen geadelte Rendell seit Jahren zu den profiliertesten und meist gelesenen Autorinnen von Kriminal- und Thrillerliteratur der Gegenwart. Für ihre Bücher kassierte sie zahlreiche Auszeichnungen.
Dabei hat "Kindes Kind" einen interessanten Ansatz: Die Geschwister Grace und Andrew erben ein Haus und ziehen zusammen. Ein Konflikt bahnt sich an, als sich Andrews Geliebter James bei den beiden einquartiert. Grace mag den Freund nicht und ist doch zur Stelle, als dieser verzweifelt bei ihr Trost sucht. Dass dieser Trost in Sex ausartet, hat eine fatale Konsequenz: Grace wird schwanger vom Liebhaber ihres Bruders. Die Literaturwissenschaftlerin entschließt sich, das Kind zu bekommen und riskiert damit ein Zerwürfnis mit ihrem Bruder.
In der zweiten Geschichte des Romans - weniger eine Parallelhandlung als eine eigenständige Story - befasst sich Grace mit einem Romanmanuskript über eine Familie im vergangenen Jahrhundert, die an den Konventionen und ihrer eigenen Engstirnigkeit zerbricht. Auch hier geht es um Geschwister, die gegen die "guten Sitten" verstoßen: Der einzige Sohn John ist schwul, seine Schwester Maud bekommt mit 15 Jahren ein Baby. John zieht mit Maud in eine andere Stadt und gibt sich als Ehemann und Vater aus - für die beiden "Sünder" wohl die einzige Lösung. Doch dann kommt Johns Liebhaber Bertie ins Spiel. Die so mühsam errichtete gutbürgerliche Fassade gerät massiv ins Wanken.
Vergleiche liegen auf der Hand: Andrew lebt seine sexuelle Veranlagung aus, John darf es nicht. Grace kann unehelich ein Kind bekommen, Maud wird geächtet. Und da es ein Thriller ist, geschehen auch Verbrechen, die sich eben nicht nur in Mord, sondern vor allem in grausamen Verhaltensnormen damals wie heute zeigen. Das alles ist zweifellos eine Vine-Thematik. In anderen Romanen zeigt die Schriftstellerin unter ihrem "Thriller-Pseudonym" ihr großes psychologisches Einfühlungsvermögen. Ihre Charaktere und ihre Gesellschaftsanalysen waren bislang immer überzeugend, wenn nicht brillant.
In "Kindes Kind" sind sie es nicht. Leider. Was diesen Roman aber dennoch lesenswert macht, ist Vines Erzählstil. Und so liest man das Buch - obwohl so manche Wesensveränderung der Protagonisten Fragezeichen hinterlassen - doch gern bis zum Schluss, der nach einer nicht wirklich passenden Zuspitzung recht unspektakulär verläuft. Was bleibt, ist der unsinnige Wunsch, Vine hätte die Chance gehabt, noch ein wenig an diesem Skript zu arbeiten.
Barbara Vine
Kindes Kind
Diogenes Verlag, Zürich
368 Seiten
24,00 Euro
ISBN 978-3-257-06946-4
Von Frauke Kaberka, dpa - Cover: Diogenes