Es ist alles so, als wäre sie noch da. Auf dem Schreibtisch steht die Schreibmaschine, als würde die Schriftstellerin jeden Moment eine ihrer Geschichten zu Papier bringen - den Blick auf den Vasapark gerichtet, der sich vor ihrem Fenster erstreckt. Fein säuberlich in Schachteln einsortiert liegen Postkarten auf dem Tisch, als warteten sie darauf, beantwortet zu werden. Astrid Lindgrens Wohnung in der Dalagatan 46 in Stockholm hat sich seit ihrem Tod 2002 kaum verändert. Jetzt können Besucher in dieses wundersame Universum in dem Altbau im Vasaviertel eintauchen.
Die Familie hatte lange gezögert, das private Reich der berühmten Kinderbuchautorin für Besucher zu öffnen. Früher trafen sich Groß und Klein zu Weihnachten und anderen Familienfesten dort, viele Erinnerungen hängen daran. Aber: "Wenn ich es Leuten zeige, macht sie das so glücklich", sagt Johan Palmberg, ein Urenkel Lindgrens. "Deshalb ist es schön, wenn es mehr Menschen sehen können."
Ab dem Wochenende (14./15. November) führen Familienmitglieder und extra ausgebildete Guides kleine Gruppen mit bis zu zwölf Besuchern durch die Wohnung, in der die Schwedin über 60 Jahre lang lebte und ihre Tochter Karin Nyman großzog.
Zu sehen bekommen sie hier etwa das Bett, in dem die siebenjährige Karin mit einer Lungenentzündung lag, als sie Lindgren bat, ihr von Pippi Langstrumpf zu erzählen. Der Name der Figur, die später zu großer Berühmtheit kommen sollte, sei ihr einfach so eingefallen, sagt die heute 81 Jahre alte Nyman. "Ihre Bücher hat meine Mutter früh am Morgen geschrieben." Dafür bewegte sich die Autorin nicht aus dem schmalen Bett, das heute mit einer bunten Patchworkdecke überzogen ist. "Sie wachte um vier, fünf, sechs Uhr auf und begann zu schreiben", sagt Palmberg. "So hat sie den ganzen Morgen bis zum Mittagessen in ihrem Schlafzimmer gearbeitet."
Dort steht auf einer Kommode eine weiße Maske. Es ist ein Geschenk ihres japanischen Verlegers an Lindgren, das den 25-jährigen Palmberg an ein Lieblingsspiel seiner Urgroßmutter erinnert. "Sie hat damit Hexe gespielt und uns Kinder herumgejagt", sagt er. "Das war ziemlich unheimlich." Natürlich hätten die Kinder gewusst, dass "Astrid" keine Hexe sei. Aber sie selbst schien das nicht zu wissen, so der Running Gag in der Familie - so sehr genoss Lindgren das Spiel.
Als seine Uroma noch lebte, hatte Palmberg in der Nähe Klavierunterricht und schaute danach öfter in der Dalagatan vorbei. "Sie mochte es, wenn wir ihr laut aus ihren Büchern vorlasen", sagt er. "Besonders zum Schluss, als sie Teile der Handlung vergessen hatte und sich über ihre eigenen Geschichten amüsierte."
Weil ihre Augen im hohen Alter so schlecht waren, sind überall im Apartment Vergrößerungsgläser platziert. In den übervollen Regalen stehen unzählige ihrer Bücher auf Französisch, Schwedisch, Englisch, Deutsch Rücken an Rücken. Dort bewahrte Lindgren auch Hörspiele mit den Abenteuern von Karlsson vom Dach oder den Kindern von Bullerbü auf, die sie wohl mit ihrem klobigen alten Kassettenrekorder hörte.
Ihre Wohnung ist voller Kuriositäten, ein wahres Sammelsurium an Porzellanfiguren, Gemälden, selbstgemachten Geschenken von Bewunderern. Man merkt nicht nur, dass hier ein kreativer Mensch gewohnt hat. Die Atmosphäre ist auch so warm und lebendig, dass man meinen könnte, die Schriftstellerin wäre gerade erst hier gewesen. Gleichzeitig fühlt sich der Besucher inmitten all des gutbürgerlichen Mobiliars aus den 50er Jahren in eine andere Zeit versetzt.
An der Garderobe neben der Wohnungstür hängt noch Astrid Lindgrens Mantel, als würde sie ihn jeden Moment überstreifen und für einen Abendspaziergang durch den Vasapark das Haus verlassen. "Sie ging dort oft spazieren", sagt Palmberg. "Aber die Leute haben sie in Ruhe gelassen, obwohl sie der vielleicht berühmteste Mensch in Schweden war. Ich weiß nicht, ob das heute auch noch so wäre."
Weil sie so berühmt war, hat Lindgren auf dem breiten Plüschsofa im Wohnzimmer hohen Besuch empfangen, von Ministern und von anderen Autoren. Der Kaffeefleck, der heute auf der Couch prangt, wäre ihr allerdings peinlich, meint Palmberg. "Sie war sehr ordentlich. Meine Großmutter sagt immer, dass sie nicht glücklich darüber wäre, die Wohnung in ihrem jetzigen Zustand zu sehen. Sie würde denken, dass sie viel zu unordentlich ist."
Von Julia Wäschenbach, dpa - Archivbild: Schmitt/EPA/DPA