Atticus Finch ist so etwas wie das moralische Gewissen der USA. Der stets freundliche und weise Rechtsanwalt verteidigt in dem 1960 veröffentlichten Weltbestseller "Wer die Nachtigall stört" einen zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigten Afro-Amerikaner - und erteilt dabei sowohl seinen Kindern Jem und Scout als auch einem ganzen Land eine Lektion in Toleranz, Nächstenliebe und Menschenrechten. Für unzählige US-Amerikaner galt die Romanfigur jahrzehntelang als eine Art perfekter Mann und Vorbild. Sogar mehr als 800 Kinder wurden im vergangenen Jahr in den USA Atticus getauft, so viele wie nie zuvor.
Zu gerne hätten Fans mehr von ihm gelesen, doch Autorin Harper Lee, die für "Wer die Nachtigall stört" den Pulitzerpreis bekam, verweigerte sich standhaft jeder weiteren Veröffentlichung - bis jetzt. Mit "Go Set a Watchman" ("Gehe hin, stelle einen Wächter") ist nach mehr als 50 Jahren erstmals wieder ein Buch der 89 Jahre alten und gesundheitlich schwer angeschlagenen Schriftstellerin erschienen.
Geschrieben hat Lee den Roman allerdings schon vor "Wer die Nachtigall stört" - es ist eine Art erster Entwurf für den Bestseller. Das Manuskript galt jahrzehntelang als verschollen und ist kürzlich wiederentdeckt worden. Nach der englischen Originalfassung am Dienstag liegt die deutsche Fassung seit Freitag in den Buchläden. Schon vor der Veröffentlichung wurde der Roman als mit Spannung erwartete literarische Sensation gehandelt.
Beim ersten Lesen zeigten sich viele Kritiker und Fans allerdings schockiert: "Gehe hin, stelle einen Wächter" ist etwa 20 Jahre nach "Wer die Nachtigall stört" angesiedelt. Scout ist eine junge Frau, die sich inzwischen Jean Louise nennt und in New York lebt. Ihr Bruder Jem ist tot. Und Vater Atticus Finch - und das dürfte für die meisten Fans wohl der größte Schock sein - ist zum Rassisten geworden, der ein Treffen des Ku-Klux-Klans besucht und sich abfällig über Afro-Amerikaner äußert.
Mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem es geschrieben worden ist, erscheint "Gehe hin, stelle einen Wächter" in einer Zeit, in der in den USA viele Bürger gegen übermäßige Polizeigewalt und nach wie vor allgegenwärtigen Rassismus auf die Straße gehen. Das Buch ist brandaktuell und bietet reichlich Diskussionsstoff. Sprache, Aufbau und immer wieder auch Witz des Buches lassen keinen Zweifel daran, dass Lee die Autorin ist. Es ist flüssig und mitreißend geschrieben und wirkt auch mehr als ein halbes Jahrhundert später kein bisschen vergilbt. Die völlig veränderte Konstellation der Hauptfiguren aber sorge für "aufwühlende", "verstörende" und "desorientierende" Lektüre, schrieb die "New York Times".
NYT: "Komplexität, die längst überfällig ist"
"Gehe hin, stelle einen Wächter" beginnt damit, dass Jean Louise mit dem Zug von New York nach Alabama reist, um Atticus und auch ihren Freund Henry Clinton, den sie eines Tages heiraten will, zu besuchen. Aber die Begegnungen stimmen sie traurig - einerseits, weil es ihrem Vater gesundheitlich schlecht geht, und andererseits, weil sowohl ihr Vater als auch ihr Freund sich für eine Trennung von Schwarzen und Weißen aussprechen, die Jean Louise entschieden ablehnt.
Das Buch wirft viele Fragen auf. Wie konnte aus diesem Manuskript der Weltbestseller "Wer die Nachtigall stört" werden, der eine so ganz andere Botschaft in sich trägt? Lee hatte ursprünglich "Gehe hin, stelle einen Wächter" beim Verlag eingereicht. "Aus jeder Zeile sprang der Funke der wahren Schriftstellerin heraus", sagte ihre damalige Lektorin Therese von Hohoff Torrey später einmal. Aber so, wie es war, wollte die 1974 gestorbene Lektorin das Manuskript nicht veröffentlichen. Ihr gefielen daran besonders die Rückblenden in die Kindheit von Scout und Jem und über mehrere Jahre hinweg begleitete sie Autorin Lee bei der Überarbeitung von "Gehe hin, stelle einen Wächter" zu "Wer die Nachtigall stört".
Das neue Werk werde wohl Image und Vermächtnis des heißgeliebten Klassikers "Wer die Nachtigall stört" und auch von Autorin Lee verändern, mutmaßte die "New York Times". Aber nicht nur zum Schlechten hin. Das nun neu veröffentlichte Buch sei auf eine Art und Weise auch "fortgeschrittener" und biete eine nuanciertere Sicht der Dinge. Der Atticus aus "Wer die Nachtigall stört" sei schon immer "überladen" gewesen, so die Zeitung.
"Der stoische und um die Gemeinschaft bemühte Atticus Finch hat Amerikanern Hoffnung gegeben. Aber dieser Trost ging auf Kosten von einfachen Antworten für komplexe Probleme. "Gehe hin, stelle einen Wächter" hat literarische Makel, aber es gibt Atticus Finch eine moralische und politische Komplexität, die längst überfällig ist."
Von Christina Horsten, dpa - Bild: Isaac Lawrence/AFP