Nächste Woche Montag wird unter dem Titel "Grenzerfahrungen" der erste Band der mehrbändigen Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens offiziell vorgestellt. Pünktlich zum Jubiläumsjahr können die Herausgeber Carlo Lejeune und Christoph Brüll mit Band 5 die von Säuberung, Wiederaufbau und Autonomiediskussionen geprägten Jahre von 1945 bis 1973 vorlegen. Wer bereits am Donnerstag einen flüchtigen Blick auf den fast 300 Seiten schweren Band werfen durfte, kann seine Begeisterung kaum noch zügeln.
Am Montagabend wird die im GrenzEcho-Verlag erschienene Veröffentlichung am Sitz des Ministerpräsidenten offiziell vorgestellt. Karl-Heinz Lambertz hat das Vorhaben angestoßen, ermöglicht, engagiert vorangetrieben und stets ermutigt. Es ist nicht sein geringstes Verdienst im Jubiläumsjahr.
Den beiden Herausgebern und den an Band 5 beteiligten zehn Autoren muss man das Kompliment machen, die wohl erste seriös fundierte Ostbelgien-Geschichte über die ersten drei Jahrzehnte nach dem Weltkrieg geschrieben zu haben. Die Texte sind ebenso von verherrlichender Heimatgeschichte, wie vom Misstrauen gegenüber der eigenen Identität entfernt und immer peinlich genau belegt, so dass die nächste Historiker-Generation darauf aufbauen kann.
Ohne Vergangenheit keine Zukunft. Deshalb hatte die Regierung im regionalen Entwicklungskonzept das Geschichtsprojekt angestoßen. Sollte das Gesamtprojekt, an dem mehr als 20 Autoren beteiligt sind, so facettenreich wie der jetzt vorliegende Band werden, ist es nicht übertrieben, es jetzt schon als großen Wurf zu bezeichnen. An der Schwelle zur sechsten Staatsreform und in einem Jubiläumsjahr, wo unter großer Anteilnahme der Bevölkerung ein Parlament eingeweiht werden konnte, das diesen Namen auch von seiner Architektur her verdient, ist es den Autoren gelungen, in äußerst lesbarer Form ein eindrucksvolles Bild von den zaghaften Neuanfängen nach dem Weltkrieg zu entwerfen. Und zwar außerhalb der jahrzehntelang geltenden Anschauungsformel, das auch die Geschichte zeigen müsse, dass wir stets echte Belgier waren und sind.
Fast alle Beiträge legen endlich einmal bloß, wie sehr die Deutschsprachigen stets eine Gratwanderung absolvieren mussten, wenn sie einerseits danach trachteten, ihre Sprache und Kultur zu bewahren und andererseits stets gezwungen waren, sich 'als gute Belgier' vorstellen zu müssen, wie dies noch vor rund 25 Jahren der Fall war. Denn der damalige Gemeinschaftsminister Bruno Fagnoul empfahl noch 1990 die unter dem Titel "Grenzland seit Menschengedenken" erschienenen Biblio-Kassetten in seinem Vorwort der Leserschaft noch als Erscheinungstag 'den 60sten Geburtstag seiner Majestät, König Baudouin I.' .
Die Autoren eröffnen im vorliegenden Band nicht nur ständig neue Perspektiven, versuchen Antworten aus der Sicht des Historikers und werfen immer neue Fragen auf. Ausgewählte und nur selten publizierte Dokumente und Fotos und sogar Karikaturen machen das Lesevergnügen komplett. Es ist ein Buch, auf das viele, noch lebende Zeitzeugen gewartet haben. Für die jüngere Generation ist der Band durchaus etwas zum Schmökern. Er könnte aber auch bei der Beantwortung mancher Fragen zur eigenen Grenzerfahrung helfen.