Der Anruf kommt um kurz nach zwei: "Auf diesen Anruf habe ich gewartet, diesen Anruf habe ich gefürchtet." Der Kranke erfährt, dass er eine neue Leber bekommt. Ein Spenderorgan, das ihm ein zweites Leben schenken wird. Schon einmal hat er eine Organtransplantation abgelehnt. Es erschien ihm damals nicht der richtige Zeitpunkt. Doch dann platzten die Krampfadern in seiner Speiseröhre. Um ein Haar wäre er verblutet. Diesmal darf er nicht nein sagen. "Leben" heißt David Wagners neues, stark autobiografisch gefärbtes Buch, das für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse (14. bis 17. März) nominiert wurde.
Tatsächlich wurde Wagner vor einigen Jahren eine neue Leber eingepflanzt. Die dramatische Geschichte mit den Krampfadern ist ihm selbst passiert. Beinahe wäre er daran gestorben. "Leben" spielt auf der anderen Seite des Kosmos, den die Gesunden gern meiden und ausblenden. Es ist die Welt der Kranken, ein in sich geschlossenes Universum kalter OP-Säle, endloser Krankenhausflure, kahler Zweibettzimmer. Eine Welt zwischen Leben und Tod, manchmal real, dann wieder surreal, traumverloren, angereichert mit Fieberfantasien, Ängsten und aus den Tiefen der Erinnerung hochgespülten Bildern.
Der Kranke, ein Mann in den Dreißigern, leidet an einem angeborenen Leberschaden, eine Autoimmunhepatitis. Sein Immunsystem hält die körpereigenen Leberzellen für fremdes Gewebe und bildet Antikörper, die die Leber entzünden. Schon als Kind hat er eine Leber wie ein Mann nach 50 Jahren Alkoholmissbrauch. Er muss zahlreiche Medikamente schlucken - mit schweren Nebenwirkungen. Sein "Gesicht ist voller als das von Helmut Kohl", seine Haut dagegen dünn, die Knochen sind weich und porös wie die einer alten Frau. Medikamente begleiten ihn durchs Leben, seit er denken kann: "Manchmal, bilde ich mir ein, kann ich die pharmakologische Symphonie meiner Medikamente in mir rauschen hören - wie die zusammenspielen, was für ein herrlicher Lärm."
Das Buch beginnt auf der Intensivstation eines Berliner Krankenhauses. Dorthin ist der Patient nach einem Notfall eingeliefert worden. Seine Leber, zu zwei Dritteln zerstört, ist nicht mehr zu retten. Er braucht ein Spenderorgan, steht auf der Warteliste: "Mit jedem Tag steigt die Wahrscheinlichkeit zu sterben, jeder Tag ist ein Tag näher dran am Tod. Doch jeden Tag, das ist die Ironie der Liste, steigt auch die Chance zu überleben - nur muss ein anderer vorher sterben. Und ich weiß schon: Wenn du nicht stirbst, dann sterbe ich."
Dann bekommt er eine neue Leber und stellt sich die Person vor, der er das Organ und somit sein Leben verdankt. War es ein Mann oder eine Frau, eine Achtzehnjährige, "die ohne Helm von ihrer Vespa fiel, die junge Mutter, die beim Baden verunglückte, die ältere Frau mit der Hirnblutung?". Vielleicht aber stammt die Leber auch von einem frustrierten alten Mann, "fernsehsüchtig, hässlich, fett und böse". Wer auch immer diese Person war, ein Teil von ihr lebt jetzt in ihm weiter. Ein befremdlicher, verstörender Gedanke.
Ähnlich wie Wagners Vorgängerbuch "Vier Äpfel" - Reflekionen auf einer Lebensmittel-Shoppingtour - ist auch "Leben" ein Buch voller Assoziationen, aneinandergereihter Bilder und Miniaturen. Die aufmunternden Worte des Arztes am Krankenbett mischen sich mit den Klagen und Erzählungen der Bettnachbarn, Bilder der toten Mutter stehen neben fernen Urlaubserinnerungen an Mexiko. Impressionen kommen und rauschen vorbei wie die Fieberträume eines Kranken oder die Fantasien eines Rekonvaleszenten, der sich die Langeweile durch das Abspulen innerer Filme zu vertreiben sucht. All dies aber sind nur verschiedene Formen der Annäherung an die letztlich einzige wichtige Frage dieses unter die Haut gehenden, virtuos geschriebenen Buchs, der nämlich nach dem Sinn des Lebens und des Sterbens.
Von Sibylle Peine, dpa - Cover: Rowohlt