Kalter Winterwind bläst über den Deich, der die Hattstedter Marsch nördlich von Husum vor der Nordsee schützt. Die steife Brise zaust die Bäume und Sträucher in der menschenleeren Ebene. Eine milchige Sonne erhellt die Szenerie. Hier ist das "Schimmelreiter"-Land. Hier steht der Schimmelreiterkrug, ein altes Wirtshaus, das Vorbild für die Gaststätte in der Novelle ist.
Dort wurde in den 30er Jahren auch Theodor Storms Alters- und Meisterwerk verfilmt. Vor 125 Jahren, im April und Mai 1888, erschien der "Schimmelreiter", die Geschichte des Deichgrafen Hauke Haien, erstmals in der Deutschen Rundschau. Die Veröffentlichung als Buch erlebte Storm (1817-1888) nicht mehr - er starb im Juli desselben Jahres.
Die Novelle ist zu einer Art Nationalepos der Nordfriesen geworden. Die Verehrung ging so weit, dass 1961 der Hauke-Haien-Koog nach der Titelfigur benannt wurde. Ein Lehrer habe den Vorschlag gemacht, sagt Thomas Steensen, Direktor des Nordfriisk Instituuts in Bredstedt. "Es ist schon außergewöhnlich, dass ein Ort nach einer Romanfigur benannt wurde - wo gibt es das sonst?"
Für Steensen liegt die Bedeutung des "Schimmelreiters" für die Nordfriesen in der Auseinandersetzung mit zentralen Leitmotiven der friesischen Geschichte, nämlich Deichbau und Sturmflut. "Das anhand der Novelle gezeichnete Bild des Deichgrafen, der seinen modernen Deich gegen alle Widerstände durchsetzt, hat dazu geführt, dass Hauke Haien als "der friesische Mensch schlechthin" gedeutet wurde."
Suche nach dem Vorbild
Doch wer war dieser friesische Mensch? Immer wieder gibt es Vermutungen, wer Vorbild für den "Schimmelreiter" gewesen sein könnte. Selbst nach 125 Jahren gibt es noch neue Untersuchungen zu dem Thema. Bei der Storm-Gesellschaft in Husum werden mehrere Personen genannt, bei denen sich Storm bedient haben soll, etwa der Mathematiker Hans Momsen und die Deichgrafen Hans Iwert Schmidt (1774-1824) und sein Sohn Johann Iwersen Schmidt (1798-1875). Für den Storm-Forscher und Wirtschaftswissenschaftler Ekkehard Schmidt ist dagegen klar: Nur Hans Iwert (oder Iwersen) Schmidt kann Hauke Haien sein. In einem Büchlein hat er seine Erkenntnisse publiziert.
In jahrelanger detektivischer Arbeit hat der Eckernförder die Archive in Hamburg und Schleswig-Holstein durchforstet und eine Vielzahl von realen Vorbildern für Personen und Orte in der Novelle entdeckt. "Der größte Teil aller Personen hat gelebt", ist Schmidt sicher. "Das ganze ist eine Familiensage." Getauft wurde das Vorbild für Hauke Haien demnach vom Urgroßonkel von Storms Ehefrau Constanze. Instituts-Direktor Steensen gibt dagegen zu bedenken, dass der fiktive Hauke Haien ein Aufsteiger gewesen sei - anders als die alteingesessene Deichgrafen-Familie Iwersen Schmidt.
Unabhängig von Dichtung und Wahrheit hält Steensen Storms Novelle auch 2013 noch für aussagekräftig. Die Auseinandersetzung von Mensch und Natur bleibe wichtig, etwa in punkto Klimawandel. Zudem gehe es um den Einzelnen, der sich gegen die Mehrheit durchsetzt. "Es geht auch um das Scheitern dieses Einzelnen als Mensch, weil er vielleicht zu ehrgeizig und hochmütig war. Das ist ein zentrales Thema - nicht nur an der Nordseeküste."
Wie wird nun nach 125 Jahren der "Schimmelreiter" gewürdigt? Das Nordfriisk Instituut plant einen Vortrag in der Reihe "Nordfriesisches Sommer-Institut" und einen Aufsatz in der Zeitschrift "Nordfriesland". In Hanerau-Hademarschen, wo Storm 1888 starb, wird das Jubiläum mit einer Schimmelreiter-Theatertrilogie gewürdigt. Und Ekkehard Schmidt hat schon 2012 auf eigene Kosten ein Schimmelreiterdenkmal auf dem Friedhof von Hattstedt errichten lassen. Ein weiteres Buch ist geplant.
Steensen empfiehlt Storm-Jüngern "einen langen Deichspaziergang" auf dem alten Deich der Hattstedter Marsch. Einsam ist es dort zwar an einem Wintertag. Doch manchmal kommt jemand vorbei, in der Sonne lässt sich nur eine dunkle Gestalt erkennen, die gegen den Wind radelt und schnell verschwunden ist. Oder war das ein Reiter?
Von Martina Scheffler, dpa - Bild: Ulrich Perrey, epa