Es ist eine mutige Entscheidung, die die Jury des Deutschen Buchpreises getroffen hat. Auf der Liste der letzten Sechs für den Endspurt sind die vorab vielgehandelten Namen nicht zu finden - weder der "Langsamkeits-Entdecker" Sten Nadolny mit seinem Alterswerk "Weitlings Sommerfrische" noch Kultur-Quertreiber Rainald Goetz mit seiner Kapitalismusfarce "Johann Holtrop". Selbst Bodo Kirchhoffs großartiger Eheroman "Die Liebe in groben Zügen" fehlt.
Dafür versammelt die "Shortlist" eine Anzahl eher ungewöhnlicher, experimentierfreudiger Autoren - und einige echte Überraschungen. Die erste ist die Nominierung von Wolfgang Herrndorf ("Tschick"). Nachdem der 47-jährige Wahlberliner dieses Jahr schon den renommierten Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen hatte, hätte die Jury ohne Gesichtsverlust an seinem Meisterwerk "Sand" vorübergehen können.
War es vielleicht eine letzte Verneigung vor dem unheilbar krebskranken Schriftsteller, von dem man zeitweise nicht einmal wusste, ob er seinen neuen Roman je würde beenden können? "Nein, es war in diesem Fall ganz besonders nur die Qualität", sagte Jurychef Andreas Isenschmid ("Neue Züricher Zeitung am Sonntag") am Mittwoch der Nachrichtenagentur dpa. "Wenn man den Anspruch hat, die feinsten, innovativsten und genauesten Erzählungen zu benennen, dann muss Herrndorf dabei sein. Da kann man nicht sagen, der hat schon einen Preis."
Ähnliches mag für den Österreicher Clemens J. Setz gegolten haben, den mit 29 Jahren mit Abstand jüngsten im Sextett. 2009 hatte das Wunderkind aus Graz mit seinem Roman "Die Frequenzen" den Deutschen Buchpreis nur knapp verfehlt, 2011 - ein Jahr vor Herrndorf - erhielt sein düster-skurriler Erzählband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes" ebenfalls Leipziger Buchpreis. Auch an seinem neuen Roman "Indigo", einer raumgreifenden Erzählung einer rätselhaften Krankheit, kam die Frankfurter Jury wohl nicht vorbei.
Besonders eindrucksvolles Stück Zeitgeschichte
Dass nur eine Frau unter den sechs Favoriten ist, könnte vor allem die weiblichen Leser enttäuschen. In der Jury hätten "textfremde" Überlegungen keinerlei Rolle gespielt, sagt Isenschmid. "Wir wollten einfach nur die Liste der besten Bücher erstellen." Mit Ursula Krechels "Landgericht" ist damit ein besonders eindrucksvolles Stück Zeitgeschichte auf die Liste gekommen. Die 64-jährige Lyrikerin, die erst vor vier Jahren mit "Shanghai fern von wo" ihr Romandebüt vorlegte, erzählt von einem in der Nazi-Zeit geflohenen Juden, dem bei seiner Rückkehr in die Heimat eine Atmosphäre von Verdrängen und Vergessen entgegenschlägt - ein literarisch kaum aufgearbeitetes Thema.
Zu den Autoren, mit denen wohl kaum jemand auf der Shortlist gerechnet hat, gehört der 84-jährige Ernst Augustin mit seiner Fabel "Robinsons blaues Haus". Und auch Ulf Erdmann Zieglers Gesellschaftsroman "Nichts Weißes" war im Vorfeld nicht groß im Gespräch. Die Geschichte über eine junge Schriftkünstlerin im angehenden Computerzeitalter signalisiert aber zugleich eine weitere Überraschung: Sie erschien im Suhrkamp Verlag.
Zusammen mit Stephan Thomes "Fliehkräften" und Setz' "Indigo" ist das traditionsreiche Verlagshaus damit gleich drei Mal in der Endrunde vertreten - nach vielen eher dürren Jahren ein Signal für Aufwind. Branchengrößen wie Dumont, S.Fischer oder Kiepenheuer & Witsch waren schon auf der vorangegangenen Longlist mit 20 Titeln nicht zu sehen. "So viel Suhrkamp - geht das?" hieß es nach Angaben von Teilnehmern in der Jury. Aber auch hier sei es nur um Qualität, nicht um Quote gegangen. Ob der Verlag dann auch bei der Endausscheidung gut dasteht, wird sich zeigen. Der Sieger wird erst am 8. Oktober im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse gekürt. Bis dahin heißt es lesen, lesen, lesen.
Von Nada Weigelt, dpa - Cover: Argon Verlag