Das Buch "Muttersprache" erzählt die Geschichte von Paolo Prescher, "bald 18" Jahre, der in Bozen aufwächst, in einer italienischsprachigen Familie. Die Mutter ist italienisch, der Vater vermutlich deutsch. Das weiß man aber nicht so genau, weil er verstummt ist.
Paolo hasst seine Heimat, er hasst seine Mutter und seine Schwester. Als sein Vater sich das Leben nimmt, wird Paolo alles zu eng und er entscheidet, nach Berlin zu "flüchten". Als Erwachsener kehrt er nach Südtirol zurück, wo ihn seine alten Probleme wieder einholen.
Obsession mit Wörtern
Paolo hat eine Obsession: Er ist besessen von Wörtern. Diese unterteilt er in sauber und schmutzig. Wörter sind sauber, wenn sie das sagen, was sie sagen sollen. Wecken sie aber Assoziationen in ihm, sind sie "dreckig". Das ist dann der Fall, wenn seine ständig heulende Mutter spricht. Dann macht sie ihm die Wörter schmutzig. Auch seine Schwester Luisa macht ihm die Wörter dreckig, weil sie "nur dummes Zeug redet".
Der Gegenpol zu beiden ist Paolos Vater, der sich ganz aus der gesprochenen Sprache zurückgezogen hat: er ist verstummt. Er leidet unter Aphasie oder Mutismus. Laut Paolo streiten die Mediziner darüber, was es ist.
Nach dem Tod des Vaters entscheidet Paolo, nie mehr italienisch zu sprechen, die Sprache seiner Mutter, seine "Muttersprache" und er geht nach Berlin.
Zweisprachigkeit
Von Bozen nach Berlin. Von der italienischen Muttersprache zur deutschen Fremdsprache. Die Sprache als Mittel zur Kommunikation und Identifikation ist das übergeordnete Thema. Neben der Obsession für Wörter, die der Ich-Erzähler hat, geht es in dem Roman um die Zweisprachigkeit. In Bozen wird Italienisch und Deutsch gesprochen, hinzu kommt noch Ladinisch und ein Dialekt. Besonders die Zweisprachigkeit Deutsch-Italienisch ist in Paoloas Augen nicht echt: "Aber ganz ehrlich, das stimmt gar nicht, dass wir Deutsch in der Schule lernen. Fast keiner in unserer Schule kann Deutsch, weil wir [...] die deutsche Sprache ätzend finden [...]."
In Paolo löst die Zweisprachigkeit Orientierungslosigkeit aus. Seine Suche nach Identität löst sich nie wirklich auf, auch wenn es zunächst so scheint. Protagonist Paolo verliebt sich in Berlin in die Mailänderin Mira und die beiden kommen zusammen. Durch Mira, die "supersaubere Wörter" spricht, "hell wie Wasser", findet er wieder zur italienischen Sprache. Als das Paar nach Bozen zurück muss, holt Paolo seine Obsession auf tragische Weise wieder ein.
Faszination für Antihelden
Von "Muttersprache" oder "Lingua Madre" von Maddalena Fingerle geht eine besondere Faszination aus. Die temporeich und humorvoll erzählte Geschichte verstört zugleich. Protagonist Paolo Prescher hat eine schräge Sicht seines Lebens, die der Leser nicht bedingungslos für wahr halten sollte. Trotz der ruppigen Sprache des Ich-Erzählers, an die ich mich über die ersten Seiten gewöhnen musste, packt einen seine Geschichte. Zum Ende hin lässt das Tempo leider etwas nach, das stellt aber keineswegs den gesamten Roman in den Schatten. "Muttersprache" von Maddalena Fingerle ist ein Buch für Leser, die sich für Antihelden begeistern.
Der Roman "Muttersprache" oder "Lingua Madre" von Maddalena Fingerle ist im Folio-Verlag erschienen, er hat gut 190 Seiten und kostet 22 Euro (Hardcover).
jp