Die Autorin Caroline Criado-Perez behauptet sogar, dass einige Produkte lebensgefährlich für Frauen sind. Das fange schon bei den medizinischen Studien an. 90 Prozent dieser Studien werden bei Männern oder männlichen Tieren durchgeführt. In der Arzneimittelforschung bleibt der Ansatz bestehen: Was für Männer gilt, gilt auch für Frauen. Spezifische medizinische Daten fehlen oft, weil Frauen weniger in Studien involviert sind.
Ziemlich beängstigend ist das, weil Männer und Frauen ein unterschiedliches Immunsystem, unterschiedliche Hormone und unterschiedliche Fettwerte haben. Diese Tatsache kann eine Rolle bei der Art und Weise spielen, wie die Medikamente wirken. Die überwiegende Mehrheit der Medikamente wird dennoch in geschlechtsneutralen Dosen verschrieben, was bedeutet, dass Frauen das Risiko einer Überdosierung eingehen.
Nicht nur Produkte sind problematisch. Auch Herzinfarkte werden bei Frauen häufig nicht erkannt, da sie sich in der Regel ganz anders darstellen als bei Männern. Während Männer von einem plötzlichen "Elefanten auf der Brust" sprechen, berichten Frauen eher von Atemnot, Magenschmerzen, Übelkeit und Müdigkeit. Auch Hausärzte stellen manchmal falsche Diagnosen, basierend auf dem Klischeebild des Herzinfarkts. Das nennt man das Yentl-Syndrom - nach dem Film, in dem Barbara Streisand als junge Jüdin erst dann ernst genommen wurde, nachdem sie sich als Mann ausgegeben hatte.
Auch in der Technik werden Erfindungen und Produkte gerne auf Männer geeicht. Ein Beispiel: Männer haben nicht nur längere Hände und Beine, sondern auch längere Stimmbänder als Frauen. Wenn wir beim Sprechen Schall produzieren, vibrieren unsere Stimmbänder. Und je länger Stimmbänder sind, desto langsamer sind die Vibrationen. Männliche Stimmbänder vibrieren mit einer Frequenz von 120 Hertz, bei Frauen sind es etwa 200 Hertz, was zu einer höheren Stimme führt. Aber viele sprachgesteuerte Systeme scheinen das weniger gut zu erkennen. Die Google-Spracherkennungssoftware hat laut Untersuchungen der Universität von Washington eine klare Vorliebe für Männerstimmen, denn die riesigen Datenbanken mit aufgezeichneten Stimmen, die die Spracherkennungstechnologie "trainieren" - enthalten immer noch 69 Prozent männliche Stimmen.
Jetzt kann man nicht verlangen, dass Frauen mit leiserer und tieferer Stimme sprechen, bis das Problem gelöst ist. Aber in der Zwischenzeit bietet man ihnen einen minderwertigen Service an - ganz zu schweigen von den Sicherheitsrisiken. Im Auto dient die Spracherkennungssoftware ja dazu, die Ablenkung zu verringern und das Fahren sicherer zu machen.
"Von bewusstem Sexismus oder einer großen männlichen Verschwörung kann keine Rede sein", sagt Criado-Perez. "Männer sind seit Ewigkeiten der Standard in unserer Kultur. Das Ergebnis ist, dass die männliche Perspektive universell geworden ist." Aber wir wissen, dass Frauen die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Das ist alles andere als eine Nische. Es fehlen leider viel zu oft gute Daten über Frauen.
Die Crashtest-Dummies, die in Autosicherheitstests eingesetzt werden, sind auf den Durchschnittsmann zugeschnitten. Mit ihrer Länge von 1,77 m sind sie viel länger und schwerer als die durchschnittliche Frau. Die Dummies erhielten auch männliche Muskelproportionen und ein starkes männliches Rückgrat. "Erst 2011 kamen die ersten Tests mit "weiblichen" Dummies. Aber das sind nur kleinere Modelle männlicher Testpuppen.
Außerdem sitzen sie während der Tests auf dem Beifahrersitz. Leider liefern sie den Autodesignern so keine brauchbaren Daten darüber, wie sie auch weibliche Fahrer am Steuer besser schützen könnten.
Es gibt also noch viel zu tun. An vielen Stellen. Wir erinnern uns: Im März musste die Nasa den ersten Weltraumspaziergang für Frauen absagen, weil die verfügbaren Raumanzüge für die weiblichen Astronauten viel zu groß waren.
Unsichtbare Frauen: Wie eine von Männern gemachte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert (Autor: Caroline Criado-Perez) erscheint am 10. Februar 2020 im Verlag btb.
hln/mz