Einen kleinen Vorgeschmack hat es in Pilsen schon auf ein Jahr Kulturhauptstadt Europas gegeben: Wie ein Ufo landete ein französisches Kinder-Karussell auf dem größten Platz der tschechischen Industriestadt. Der "Manège Carré Sénart" erinnert mit seinen Karussell-Figuren von Heuschrecken, Käfern und Büffeln an einen grotesken Kafka-Roman.
Die Idee, diese Fantasiewelt der Schausteller für mehrere Wochen nach Pilsen zu holen, hatte Petr Forman. Der künstlerische Leiter des Kulturhauptstadt-Projekts ist einer der Söhne von Hollywood-Regisseur Milos Forman. "Das Karussell bewegt sich an der Grenze zwischen Kunst und Unterhaltung", erklärt er seine Absicht. Forman will auch diejenigen Bewohner und Besucher Pilsens für das Kulturhauptstadtjahr 2015 begeistern, die ansonsten eher nicht ins Theater oder Museum gehen.
Bei der Eröffnungszeremonie am 17. Januar wird der Schweizer Seiltänzer David Dimitri auf einem Hochseil über den zentralen Platz der Republik laufen. Dazu gibt es ein Videoprojekt. Mehr will Programmchef Forman noch nicht verraten. "Es soll eine Überraschung sein", sagt er. Das ganze Jahr über wird alle zwei Monate eine neue Zirkuskompanie Station machen.
Doch wer Pilsen sagt, denkt weniger an Schauspiel oder Kultur als an Bier. "Da führt kein Weg dran vorbei", räumt Forman ein. Die Menschen in Pilsen seien stolz auf ihre Stadt - und natürlich besonders auf das hier erfundene Pils. "Es ist ein Phänomen für sich", lobt der Kulturchef die örtliche Bierkultur. Unter der Stadt habe er die kilometerlangen Gänge besichtigt, in denen früher das "flüssige Gold" kühl gelagert wurde.
Eigentlich war der Plan, eine ganze Kulturfabrik auf dem Gelände der Brauerei-Ruine Svetovar entstehen zu lassen. Sie hätte Braukunst und Kultur symbolisch miteinander verbunden. Doch Probleme mit gesundheitsgefährdenden Baustoffen durchkreuzten völlig unerwartet die Sanierungspläne. Die Künstler mussten schnell eine neue Bleibe suchen - und fanden sie in einer ehemaligen Trolleybus-Halle der Verkehrsbetriebe. "Diese Halle hat noch stärker diesen industriellen Charakter, der interessant ist", sagt Forman. Sie bietet Platz für Workshops und Gastkünstler aus ganz Europa.
Der Ausstellungshöhepunkt des Jahres ist mit einem ganz besonderen Ritual verbunden: Der Maler Gottfried Lindauer (1839-1926) war nach einer akademischen Ausbildung in Wien nach Neuseeland ausgewandert. Dort schuf er einzigartige, außergewöhnlich realistische Porträts von Maori-Indianern. Die Gemälde sind erstmals in der Geburtsstadt Lindauers zu sehen. Doch zunächst müssen Maori-Indianer die Ausstellungsräume mit Tänzen und rituellen Gesängen segnen. "Für sie ist jedes Gemälde mehr als nur ein Abbild eines Gesichts", sagt Forman. Es gelte als Ausdruck der Seele des Verstorbenen.
Eine weitere Ausstellung ist dem ebenfalls in Pilsen geborenen Animationskünstler Jiri Trnka (1912-1969) gewidmet. "Er war einer der ganz Großen des Puppentrickfilms", meint Forman. Trnka arbeitete fast ausschließlich mit Handpuppen und verfilmte so etwa Jaroslav Haseks Roman "Der brave Soldat Schwejk".
Verglichen mit anderen Kulturhauptstädten ist das Budget von Pilsen 2015 bescheiden. Es liegt derzeit bei etwas über 20 Millionen Euro. "Das ist auch Geld, damit kann man einiges auf die Beine stellen", meint Forman, der mit dem Motorrad zum Interview gefahren kommt. Nachdem sich fünf Generaldirektoren in fast so vielen Jahren abgelöst hatten, scheint nun etwas Ruhe an der Spitze einzukehren.
Die einst rußgeschwärzte Industriestadt hat sich herausgeputzt. Am Renaissance-Rathaus glänzt das Stadttier, aus unerfindlichen Gründen ein Kamel. Die Große Synagoge mit ihren roten Zwiebeltürmen im maurisch-romanischen Stil kann wieder besichtigt werden. Und die gotische Bartholomäus-Kathedrale bekommt in diesen Tagen Ersatz für ihre im Krieg eingeschmolzenen Glocken.
Richtige Volksfeststimmung wird am 1. Mai aufkommen, wenn die Stadt die Befreiung von den Nazis durch die US-Armee unter General Patton feiert. Erst später wurde Pilsen den Sowjets übergeben. Zum Jahrestag wird die US-Südstaatenband Lynyrd Skynyrd "Sweet Home Alabama" singen - ein Geschenk des Fußballvereins Viktoria an die Stadt. Auch das ist ein Stück Pilsener Alltagskultur.
Von Michael Heitmann, dpa - Bild: Mons 2015