
Der deutsche Bundespräsident Horst Köhler ist zurückgetreten. Grund des historisch einmaligen Schrittes sind umstrittene Äußerungen des Staatsoberhaupts über Bundeswehreinsätze im Ausland.
Köhler sagte in Berlin, die Unterstellung, er habe einen grundgesetzwidrigen Einsatz der Bundeswehr im Ausland zur Sicherung von Wirtschaftsinteressen befürwortet, entbehre jeder Grundlage. Das lasse den notwendigen Respekt vor dem höchsten Staatsamt vermissen. Nach seinem Kurzbesuch in Afghanistan hatte das Staatsoberhaupt in einem Interview des Deutschlandradios Auslandseinsätze der Bundeswehr mit der Wahrung nationaler Wirtschaftsinteressen in Verbindung gebracht und damit eine heftige Debatte ausgelöst.
Köhler fügte hinzu, er danke den vielen Menschen in der Bundesrepublik, die ihm Vertrauen entgegengebracht und seine Arbeit unterstützt hätten. Zugleich bat er um Verständnis für seinen Schritt.
Es ist das erste Mal seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, dass ein Bundespräsident zurücktritt.
Die Pressekonferenz
Das Rätselraten war zunächst groß. Noch nie hatte ein Bundespräsident so kurzfristig die Presse zu sich gerufen, ohne dass auch nur ein Hauch einer Ahnung kursierte, um was es denn gehen könne. «Er will zu dem Thema Bundeswehr und Afghanistan noch mal etwas sagen», meinten angebliche Köhler-Kenner. Andere spekulierten, er werde vielleicht ein anderes Thema aufbringen, um die Interview-Panne auf dem Rückflug von seinem kurzen Afghanistan-Besuch vor gut einer Woche aus den Schlagzeilen zu holen.
Dass eine missverständlich formulierte Antwort auf eine harmlose Frage zur Rolle der Soldaten am Hindukusch zu einem Präsidenten-Rücktritt führen kann - diese Idee tauchte in der Stunde zwischen Ankündigung und Vollzug der Presseerklärung Köhlers nur in den Witzeleien wartender Reporter auf.
Als sich dann kurz nach 14.00 Uhr die Tür zum Langhans-Saal im ersten Stock vom Schloss Bellevue öffnete und ein eher zögernder Bundespräsident an das schwarze Rednerpult mit dem Bundesadler trat, stockte allen vor Verblüffung der Atem: «Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten - mit sofortiger Wirkung.»
Köhler kämpfte mit einem Kloß im Hals, seine Frau Eva Luise blickte versteinert auf die Pressetribüne. Die knapp 20 Zeilen umfassende Erklärung war in wenigen Minuten verlesen. Die Sensation war perfekt: Der neunte Bundespräsident hatte als erstes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland soeben seinen sofortigen Abgang verkündet.
(Hinter)gründe
Die Gründe für den völlig unerwarteten Schritt - den manche gleich auch als Kurzschlusshandlung deuteten - ließ Köhler mit seiner Stellungnahme weitgehend offen. «Ich bedauere, dass meine Äußerungen in einer für unsere Nation wichtigen und schwierigen Frage zu Missverständnissen führen konnten», sagte er zunächst.
In dem Interview auf dem Rückflug aus Masar-i-Scharif hatte Köhler weitschweifig über den Zusammenhang von Militäreinsätzen und freien Handelswegen gesprochen. Da die Frage des Radioreporters zu Afghanistan gestellt war, musste auch die Antwort in diesem Zusammenhang gehört und gelesen werden.
Das wollte Köhler nicht auf sich sitzen lassen. «Die Kritik geht aber so weit, mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären», verlas er nun in seiner Erklärung. «Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen.» Die Botschaft: Köhler sieht das Amt beschädigt.
Dass Köhler wegen eines verpatzten Interviews zurücktritt, ließ alle zunächst ratlos zurück. Seine zweite Amtszeit seit Mai 2009 stand nicht unter einem guten Stern. Ständig gab es Medienberichte, er sei zu wenig präsent. In seinem Amt rumorte es auch. Viele Vertraute verließen aus verschiedenen - manchmal auch nur privaten Gründen - das Bundespräsidialamt.
Es entstand der Eindruck, Köhler habe nichts mehr zu sagen. Dass dies jedoch ausreichen sollte für einen plötzlichen Rücktritt aus Verärgerung? «Er ist eben kein Politiker, der so etwas wegsteckt», hörte man in ersten Kommentaren im Regierungsviertel. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe Köhler nicht genügend geschützt vor Angriffen aus der Opposition, war eine andere Lesart.
Bei den Menschen außerhalb des Berliner Politik-Betriebs gab es oft Kopfschütteln. «Er hat doch alles jut jemacht bis jetzt...», meinte ein Berliner Taxifahrer, als er von dem Präsidentenrücktritt hörte.
Die Auswirkungen
Bundespräsident Horst Köhler hat die schwarz-gelbe Koalition mit seinem Rücktritt mitten in Europas Schuldenkrise in schwere Turbulenzen gestürzt. Ein Nachfolger für das Staatsoberhaupt muss bis zum 30. Juni gewählt sein. Der Bremer Regierungschef Jens Böhrnsen (SPD) übernimmt als amtierender Bundesratspräsident die Amtsgeschäfte.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beriet mit Vizekanzler und FDP-Chef Guido Westerwelle über die Konsequenzen. Wer Nachfolger Köhlers wird, war zunächst offen. Er war als Kandidat von Union und FDP am 23. Mai 2004 gewählt und 2009 für weitere fünf Jahre bestätigt worden.
Als Köhler-Nachfolger ist unter anderem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Gespräch, der sich schon einmal Hoffnung auf das Präsidialamt gemacht hatte. Allerdings war er zuletzt gesundheitlich stark angeschlagen. Zu hören waren auch die Namen des noch amtierenden nordrhein-westfälischen Regierungschefs Jürgen Rüttgers sowie von Bundestagspräsident Norbert Lammert (beide CDU). Außerdem werden aus Unionsreihen Bildungsministerin Annette Schavan und die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer genannt.
Die niedersächsische SPD schlug die nach einer Alkoholfahrt als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zurückgetretene Margot Käßmann vor. Auch die gegen Köhler unterlegene SPD-Kandidatin Gesine Schwan könnte zum Kandidatenkreis zählen.
Kanzlerin Merkel, Vizekanzler Westerwelle und andere Spitzenpolitiker wurden von Köhler erst am Montagmittag informiert. Der Außenminister sei «wie vom Donner getroffen gewesen», hieß es aus dessen Umgebung. Der FDP-Chef habe versucht, Köhler umzustimmen.
Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) sagte der Nachrichtenagentur dpa, gerade in der Finanzkrise, in der wirtschaftspolitischer Sachverstand und internationale Erfahrung gefragt seien, hinterlasse Köhler als früherer Chef des Internationalen Währungsfonds eine große Lücke.
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sagte, er habe Köhler und seine Amtsführung immer geschätzt. «Köhler war kein bequemer Bundespräsident, und das wollte er erklärtermaßen auch nicht sein.» Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer erklärte, Köhler habe «sich die Sympathien der Bürger in Deutschland und hohe Anerkennung im Ausland erworben».
In seiner ersten Amtszeit genoss Köhler in der Bevölkerung enorme Zustimmung. In Umfragen lobten häufig rund 80 Prozent der Bürger seine Arbeit.
Frank Rafalski, Jörg Blank & Tim Braune (dpa) - Bild: epa