Überraschungen gab es bei der NATO nicht. 55 Seiten dick ist ein Bericht der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright. Sie hat mit elf anderen Experten Vorschläge für eine neue Strategie des Nordatlantischen Bündnisses aufgeschrieben. Es kam, wie es kommen musste: Verändern soll sich die Allianz, wenn es um neue Bedrohungen geht. Und nichts ändern soll sich, wenn es um die Grundlage der NATO geht - das Versprechen, einem angegriffenen Mitgliedstaat militärisch zu helfen.
Erst von September an, wenn NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen auf Grundlage des Albright-Berichts seinen eigenen, offiziellen Strategievorschlag gemacht hat, wird es im Bündnis spannend. Dann müssen die 28 Bündnismitglieder eine gemeinsame Sprache zu Problemen finden, in denen die Meinungen oft auseinandergehen. Rasmussen: «Die Reform der NATO ist kein Slogan, sie ist eine Notwendigkeit.»
Unterschiedliche Erwartungen
Je nach Geografie, Geschichte und Interessenslage unterscheiden sich die Erwartungen an das Nordatlantische Bündnis erheblich. Ungewiss ist nach Ansicht von Diplomaten daher, ob die Strategie, die im November in Lissabon feierlich beschlossen werden soll, die Meinungsunterschiede nur überdeckt oder tatsächlich neue Einigkeit schafft.
Der Bericht (Albright: «Eine der interessantesten Aufgaben, die man mir je gegeben hat») geht auf Interessen der unterschiedlichen Staatengruppen ein. Einerseits sind da die neuen NATO-Mitglieder, die seit März 1999 beigetreten sind. Staaten, die dem Warschauer Pakt oder - wie jene des Baltikums - sogar der Sowjetunion angehörten. Viele von ihnen schauen eingedenk traumatischer Erfahrungen ängstlich in Richtung Russland. Sie erwarten von der NATO vor allem die Beistandsgarantie des Artikels 5 des NATO-Vertrages, wonach der Angriff auf ein NATO-Mitglied wie ein Angriff auf alle NATO-Mitglieder betrachtet wird.
Mit Hinweisen, dass sich alle Mitglieder auf diese Garantie verlassen können, und mit Mahnungen, dies beispielsweise durch Manöver und Planungen glaubhaft zu machen, ist Albright den Sorgen der Ost-Länder entgegengekommen. Da Russlands Politik gegenüber der NATO «schwierig vorherzusagen ist», müssten die Verbündeten auch Vorsorge für den Fall treffen, «dass Russland sich in einer feindlicheren Richtung bewegt».
Neue Bedrohungen
Andererseits gibt es da aber die neuen Bedrohungen - vom Terrorismus über die elektronische Kriegsführung bis hin zu Raketenangriffen - um die sich die NATO nach Ansicht vieler anderer Verbündeter - besonders der USA - kümmern muss. Hierbei wird eine enge Zusammenarbeit mit Russland angestrebt. Und die Sicherheit der NATO könne - siehe Afghanistan - durchaus außerhalb des NATO-Gebiets bedroht sein. Das Bündnis brauche Partner in aller Welt.
Nach dem Albright-Bericht zeichnet sich auch ab, dass die NATO im November in Lissabon die von den USA gewünschte Raketenabwehr in Europa als ein NATO-eigenes Projekt absegnen wird. Die Raketenabwehr ist deshalb von so großer Bedeutung - und trifft auch auf Vorbehalte Russlands - weil sie nachhaltige Folgen für die Notwendigkeit von Atomwaffen und damit den Bedarf an diesen Waffen haben kann. NATO-Experten sagen, die Sinnhaftigkeit von Atomwaffen - ganz besonders jenen, deren Beseitigung Deutschland als «Friedensdividende» möchte - hänge entscheidend vom Fehlen oder Vorhandensein der Raketenabwehr ab.
Schlanke Strukturen
Weil das Geld knapp ist, tauchen in dem Strategiebericht immer wieder Aufforderungen zu Reformen, schlanken Strukturen und einem Umbau der bisher auf den kalten Krieg ausgerichteten NATO-Strukturen auf. Schon in Kürze will Rasmussen auch dazu Vorschläge machen, die auf die Streichung ganzer Kommandostrukturen hinauslaufen. Das sehen altgediente NATO-Diplomaten mit Skepsis: «Es ist extrem schwer, die Stelle eines Vier-Sterne-Generals zu streichen.»
Dieter Ebeling (dpa) - Bild: belga