Es war eine kaum beachtete Meldung, die sich einreihte in die vielen tristen Nachrichten in der seit Monaten eskalierenden Flüchtlingskrise: Zwei Boote sind zwischen der türkischen Halbinsel Bodrum und der griechischen Insel Kos gesunken, unter den zwölf Todesopfern aus Syrien sind mehrere Kinder.
Fotos der türkischen Nachrichtenagentur DHA sorgen nun dafür, dass das ganze Elend hinter den nüchternen Zeilen auf entsetzliche Weise sichtbar wird: Ein kleiner Junge liegt am Strand, fast sieht es aus, als würde er schlafen - doch sein Gesicht liegt im Wasser. Er ist tot.
Das Bild zeigt die Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi aus der nordsyrischen Stadt Kobane. Aylan war an Bord eines der beiden Boote, das tote Kind wurde nach dem Unglück am Strand von Bodrum angeschwemmt. Die Füße, die in blauen Schuhen stecken, liegen auf dem Sand. Die blaue Hose reicht bis unter die Knie, das rote T-Shirt ist am Bauch hochgerutscht. Eine Schwimmweste trägt Aylan nicht. Sein Kopf mit den kurzen dunklen Haaren wird von der Brandung umspült. Auf einem weiteren Foto ist zu sehen, wie ein ernster türkischer Polizist Aylans Leiche auf seinen Armen vom Strand trägt.
Vater schildert Tod seiner Familie
Unter den Toten sind außerdem: Aylans Bruder Galip, fünf Jahre alt, und die Mutter der Jungen, Rehan Kurdi. Vater Abdullah Kurdi erzählt am Donnerstag unter Tränen von seinem Kampf, seine Familie vor dem Ertrinken zu retten. Hohe Wellen hätten das Boot zum Kentern gebracht, sagt er dem oppositionellen syrischen Radiosender Rosana FM unter Tränen. "Ich half meinen beiden Söhnen und meiner Frau und versuchte mehr als eine Stunde lang, mich am gekenterten Boot festzuhalten." Als er nach drei Stunden von der Küstenwache gerettet worden sei, seien seine beiden Kinder und seine Frau tot gewesen.
Die Familie stammt aus der nordsyrischen Stadt Kobane, der Vater arbeitete nach seinen Worten vor der Flucht in die Türkei als Friseur in Damaskus. Aus Kobane waren im vergangenen Jahr Zehntausende Menschen geflohen, als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dorthin vorrückte. Kurdische Milizen verteidigten die fast schon aufgegebene Stadt - und brachten dem IS seine bislang verheerendste Niederlage bei. Zwar gelang es im Januar, die Extremisten aus Kobane zu vertreiben, die Bedrohung ist aber nicht vorbei: Der IS beherrscht weiterhin Gebiete in der Region. Bei einem IS-Angriff im Juni mit Kämpfern und Autobomben wurden mehr als 200 Menschen getötet.
Viele der Menschen, die im vergangenen Jahr aus Kobane flohen, sind nicht dorthin zurückgekehrt. "70 Prozent von Kobane sind zerstört worden", sagt Idriss Nassan von der Kurden-Partei PYD in Kobane. Die Grenze zur Türkei sei geschlossen. "Die Menschen haben Angst vor Autobomben, die in Teilen Kobanes explodiert sind." Menschen aus der Region würden nach Europa fliehen, "wo sie in Sicherheit leben können und sich nicht davor fürchten müssen, was die Zukunft bringt".
Aylans Familie war das - wie so vielen anderen Flüchtlingen aus Syrien und anderen Bürgerkriegsgegenden - nicht vergönnt. Ihr ursprüngliches Ziel war Kanada, wie Medien dort berichten: Aylans Tante Teema Kurdi lebt seit mehr als 20 Jahren in dem Land. Aylan kam nicht einmal bis Europa - seine Reise endete in Sichtweite der EU. Kos ist gerade einmal fünf Kilometer von der Bodrum-Halbinsel entfernt. Die Nähe ist trügerisch: An klaren Tagen wirkt es, als könnte man von der Türkei aus nach Griechenland schwimmen.
Zwei Millionen Syrer in der Türkei
Fast zwei Millionen Syrer sind vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land in die Türkei geflohen. Die Regierung in Ankara erhält international viel Lob für ihre Hilfsbereitschaft, ist allerdings mit der Zahl der Hilfesuchenden überfordert. Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge ist in Camps untergebracht, viele Syrer müssen sich unter erbärmlichen Bedingungen durchschlagen. Mit jedem Jahr, das der Bürgerkrieg andauert, sinkt ihre Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat. Zugleich steigt bei vielen die Bereitschaft, das Risiko einer oft lebensgefährlichen Reise nach Europa einzugehen.
Schleuser in Istanbul bieten unter anderem die Landroute über Bulgarien an, wo die Kontrollen aber scharf sind. Flüchtlinge wie der 30-jährige Rawand, der nach Deutschland wollte und im April an der Grenze nach Bulgarien scheiterte, berichten von unmenschlichen Übergriffen bulgarischer Sicherheitskräfte. Der Iraker sagte damals, Grenzer hätten Hunde auf die Flüchtlinge gehetzt und ihnen Bargeld und Handys abgenommen. "Sie haben uns mit Stöcken geschlagen."
Flüchtlinge in Bodrum berichten, der Landweg sei inzwischen zu gefährlich. Immer mehr von ihnen versuchen stattdessen, zu den vor der türkischen Küste gelegenen Inseln wie Kos oder Lesbos zu gelangen. Auf der Bodrum-Halbinsel herrschen daher in diesem Sommer Parallelwelten: Tagsüber liegen Touristen an den Stränden, von denen aus nachts die Flüchtlinge aufbrechen. Die Region ist eines der beliebtesten Urlaubsziele wohlhabender Türken.
Ausflugsschiffe bringen sonnenhungrige Urlauber in die malerischen Buchten mit ihrem glasklaren Wasser an der türkischen Ägäisküste. Verkäufer in PS-starken Motorbooten klappern die Schiffe ab, um Eis und Zigaretten feilzubieten. Mit diesen Motorbooten wäre Kos in wenigen Minuten zu erreichen. Touristen können von Bodrum aus auch Tagesausflüge nach Kos unternehmen, die schnellen Fähren brauchen nicht einmal eine halbe Stunde für die Strecke.
Die einfache Fahrt auf den Fähren von Bodrum nach Kos kostet 20 Euro. Aylans Familie bezahlte das zweihundertfache - 4000 Euro - an Schlepper, wie der Vater berichtet - ohne den Luxus einer sicheren Ankunft zu haben. Manche der Flüchtlinge brechen mit Schlauchbooten auf, wie sie auch auf dem Wannsee schippern. Häufig sind die Boote überladen. Die Ägäis mag ruhig wirken, doch in der Gegend können heftige Böen und hohe Wellen wie aus dem Nichts entstehen.
"Für das Bild sollten wir uns alle schämen"
Immer wieder sterben im Mittelmeer Flüchtlinge, auch Kinder. Aylan ist längst nicht das erste Opfer - die Fotos von dem toten Jungen sind aber so niederschmetternd, dass sie weltweit für Entsetzen gesorgt haben. In Großbritannien etwa hatten am Donnerstag fast alle großen Zeitungen die Bilder auf dem Titel. In dem Land, in dem "Migration" ein Reizwort ist, kippte - wenigstens vorübergehend - die Stimmung. "Ohne Mitgefühl sind wir nichts", twitterte der konservative Abgeordnete Nadhim Zahawi, ein Vertrauter von Premier David Cameron, "für das Bild sollten wir uns alle schämen".
Selbst wenn die Fotos zu einem Umdenken und zu mehr Offenheit in Europa führen sollten: Für Aylans Familie und für Tausende weitere tote Flüchtlinge käme das zu spät. Das gilt auch für die am Donnerstag gemeldete Festnahme von vier Schleusern, die Aylans tödliche Überfahrt organisiert haben sollen. Die Zeitung "Ottawa Citizen" berichtete unter Berufung auf die Tante von des Jungen in Vancouver, dessen Vater habe nur noch einen Wunsch: Mit den Leichen seiner Kinder und seiner Ehefrau nach Kobane zurückzukehren - und dann neben ihnen beerdigt zu werden.
Von Can Merey, dpa - Bild: str/afp
Ein totes Kind, ein schlimmes Bild!
Widerlich aber, wie hier gewisse Kreise mit einem toten Kind Propaganda betreiben!
Lesen Sie mal de Seite bei OD! Schrecklich, was dort gepostet wird zum selben Thema u.a.
Frau Kerstges. Ich glaube nicht, dass es richtig ist, den Tod eines Kindes zu benutzen. Egal von wem oder für was. Ich finde die Veröffentlichung des Bildes falsch. Wo bleibt die Würde des toten Kindes?