Es ist schon ein sonderbares Gefühl, Nachrichten zu redigieren, im Rundfunk, zwischen Charles Michel und dem Tauziehen um die Ukraine, und Günter Grass stirbt. Nachrichten redigieren heißt: hohe Konzentration auf die Gegenwart, aufbauend auf Hintergrundwissen.
Aber der Tod von Günter Grass ist noch etwas anderes, er konfrontiert Ostbelgier meiner Generation mit dem Wesen ihrer Identität und katapultiert sie in die Zeit vor RdK, RdG, und PdG, konstitutiver Autonomie und föderalem Konzertierungsausschuss.
In der Schule hatten die Priester ihre Allmacht noch nicht ganz verloren, der Direktor schwankte zwischen den Reisen des Heiligen Paulus und Herbert Marcuse, der Sprachenkampf tobte, und Pennäler wie wir entdeckten neben Faust auch Rimbaud und Camus.
Doch Namen wie Grass machten, trotz der Anziehungskraft der französischen Literatur, dass wir die Neugierde auf die deutsche nicht verloren. Und es gab auch Heinrich Böll, kurze Geschichten in schmalem Reclam-Bändchen - Grass stand nicht auf dem Stundenplan. Doch das Reizwort "Blechtrommel" erschloss sich schon denjenigen, die sich mit Integralrechnungen quälten, während der "Deutschostbelgische Hochschulbund" mit seinem sonderbaren Deutsch ebenso anzog wie abschreckte.
Wie einladend dagegen Heinrich Böll, mit seinen ebenso einfachen wie treffenden Sätzen, den es zu lesen galt. Und wie lehrreich Stefan Andres, den es zu analysieren galt, doch wie aufreizend Günter Grass, der nicht auf dem Lehrplan stand, als uns noch keine verfassungsmäßig verbriefte Autonomie schützte, und jeder selbst gefordert war.
Und wie bereichernd, nach dem Tod des deutsch-slawischen Autors, Kämpfers und Provokateurs, seine Novelle "Katz und Maus" zu lesen und sich an ihrer Sprachkraft zu berauschen.