Die Berliner Mauer war schon eine Weile offen, als die kommunistische Führung in der Tschechoslowakei noch fest die Zügel in der Hand hielt. "Es war das einzige Land, wo sich nichts bewegte", erinnert sich der damalige Studentenführer Martin Mejstrik an die Herbsttage vor 25 Jahren. Protestkundgebungen im Laufe des Jahres 1989 waren brutal niedergeschlagen worden, die nächste eigentlich erst für den 10. Dezember, den Tag der Menschenrechte, geplant.
Doch es kam alles anders, schon am 17. November 1989 wurde das Ende des alten Systems eingeläutet. An diesem Tag sollte eine Kundgebung an den Studenten Jan Opletal erinnern, der 50 Jahre zuvor bei einer Demonstration gegen die nationalsozialistische Besatzung erschossen worden war. Soweit war alles genehmigt. "Und auf einmal standen wir vor einer Masse von 30.000 jungen Menschen, die Veränderungen wollten", sagt Mejstrik. Die Atmosphäre war feierlich, Volkslieder und die Nationalhymne wurden gesungen.
Doch die Situation eskalierte, als der friedliche Protestzug im Stadtzentrum von Polizei-Hundertschaften aufgehalten wurde. Rund 1500 Menschen waren auf der Nationalstraße eingekesselt. Es gab kein Entkommen. "Nach einiger Zeit griffen die Polizisten an - es war wirklich ein Massaker", sagt Mejstrik. Polizisten prügelten mit Schlagstöcken auf die jungen Menschen ein, die ihre leeren Hände hochhielten. Es gab mehr als 500 Verletzte, Dutzende davon schwer.
Schnell machte die Nachricht vom Tod eines Studenten die Runde. Im Nachhinein stellte sich das als falsch heraus. "Der Einsatz war so brutal, dass jemand hätte sterben können", meint Mejstrik. Die Demonstration wirkte wie eine Initialzündung: Die Studenten besetzten aus Protest ihre Fakultäten, Schauspieler und später auch Arbeiter schlossen sich ihnen an.
Dabei war die Erinnerung an die blutige Niederschlagung der Reformbewegung Prager Frühling mit Panzern des Warschauer Pakts im August 1968 noch sehr präsent. "Wir mussten unsere Eltern überzeugen, die sich im Jahr 1968 die Finger verbrannt hatten", erklärt Mejstrik. Die Älteren hätten gesagt: "Lasst es bleiben, es hat keinen Sinn."
Am 19. November gründeten Dissidenten um den Dramatiker Vaclav Havel das Bürgerforum (OF) als Sprachrohr der Bürgerrechtsbewegung. In der slowakischen Teilrepublik entstand als Gegenstück die "Öffentlichkeit gegen Gewalt". Als der lange inhaftierte Havel zwei Tage später zu den Demonstranten auf dem Prager Wenzelsplatz sprach, war die Menge schon auf 200.000 angeschwollen. Die Menschen klimperten mit ihren Schlüsseln und gaben den Machthabern so zu verstehen, endlich nach Hause zu gehen.
Nun überschlugen sich die Ereignisse: Ein zweistündiger Generalstreik brachte die ganze Tschechoslowakei zum Erliegen. ZK-Generalsekretär Milos Jakes warf am 24. November das Handtuch, obwohl ihm die Volksarmee noch kurz zuvor ein Eingreifen angeboten hatte. Der Slowake Marian Calfa trat an die Spitze einer Übergangsregierung, der erstmals mehr Nicht-Kommunisten als Kommunisten angehören.
Die Grenzen wurden durchlässig: Beim legendären "Marsch nach Hainburg" wanderten Zehntausende Slowaken mit dem Umweltaktivisten Jan Budaj und dem Schauspieler Milan Knazko an der Spitze ins österreichische Hainburg. Dessen 6000 Einwohner waren völlig überrascht von dem Ansturm.
Vaclav Havel neuer Staatspräsident
Alexander Dubcek, die Symbolfigur der Reformbewegung Prager Frühling, wurde Vorsitzender der Bundesversammlung. Doch nicht er, der slowakische Reformkommunist, sondern der Dissident Havel wurde am 29. Dezember vom noch kommunistischen Parlament zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Für die Samtrevolution fand der Dichterpräsident lyrische Worte: "Es war eine Revolte der Wahrheit gegen die Lüge, eine Revolte der Reinheit gegen den Schmutz, eine Revolte des menschlichen Herzens gegen die Gewalt."
Zum Missfallen vieler zeigte Havel keinen Willen zur Abrechnung mit den bisherigen Eliten. "Wir sind nicht wie sie und werden uns an niemandem rächen", sagt er an die Adresse der Kommunisten. 25 Jahre später ist bei einstigen Protagonisten der Samtrevolution Frust zu spüren. "Die Vertreter des Proletariats wurden von einem Tag auf den anderen zu Kapitalisten", meint Mejstrik. Sie würden bis heute an Schalthebeln in Wirtschaft und Justiz sitzen. Er fasst die Gefühle vieler zusammen, wenn er sagt: "Ich bin enttäuscht, weil wir 1990 nicht die Sieger waren, die wir glaubten zu sein."
Einige slowakische Dissidenten sollten dem vor drei Jahren gestorbenen Havel später vorwerfen, sich nicht genug für die Interessen ihres Landesteils eingesetzt zu haben. Eine neue Verfassung kam wegen der nationalen Differenzen zwischen Tschechen und Slowaken nicht mehr zustande. Nur drei Jahre nach der Phase revolutionärer Euphorie wurde die Tschechoslowakei am 1. Januar 1993 geteilt - auf die "Samtrevolution" folgte die gewaltlose "samtene Scheidung".
Michael Heitmann und Christoph Thanei, dpa