Fast vier Jahre nach dem Arabischen Frühling geht Tunesien einen weiteren großen Schritt in Richtung Demokratie. Am Sonntagmorgen begann unter massiven Sicherheitsvorkehrungen die Parlamentswahl. Lange Schlangen bildeten sich schon vor Öffnung der Wahllokale vor den Schulen und Zentren, in denen abgestimmt wurde. Polizisten und Soldaten sicherten die Straßen ab, Sicherheitskräfte in Zivil beobachten die Umgebung. Aus Angst vor Terroranschlägen militanter Islamisten waren nach aktuellen Angaben 80.000 Polizisten und Soldaten im Einsatz.
Aus europäischen Wahlbeobachterkreisen verlautete am späten Vormittag: "Bisher geht es geordnet voran." In Tunis und auch in den Vororten sei der Andrang groß. In den Mittelklasse-Bezirken Lafayette und Bardo warteten die Männer und Frauen am Morgen geduldig, bis sie an der Reihe waren. Der Leiter eines Wahllokals in Bardo ging um 10:00 Uhr morgens von einer Wahlbeteiligung von etwa 30 Prozent in seinem Zentrum aus. In einem Wahllokal des ärmeren Bezirks Al-Khadra, wo Anhänger der islamistischen Ennahda stark sind, zeigte sich die Leiterin ebenfalls optimistisch. Die Beteiligung steige. Gegen 11:00 Uhr vormittags ging sie von mehr als 25 Prozent aus.
Aus einigen Städten gab es jedoch Berichte über Unregelmäßigkeiten. In der südwestlichen Ortschaft Kasserine, wo es immer wieder zu bewaffneten Übergriffen von radikalen Islamisten auf Armee und Polizei kommt, wurde ein Wahllokal aus Sicherheitsgründen erst später geöffnet, wie die offizielle Nachrichtenagentur TAP unter Berufung auf die Wahlkommission berichtete. In der östlichen Stadt Nabeul seien einige Fehler auf den Wahlzetteln entdeckt worden.
Zweite Abstimmung über eine Legislative
Es ist die zweite Abstimmung über eine Legislative in dem nordafrikanischen Land. Aber da Tunesien erst seit Anfang dieses Jahres eine neue, moderne Verfassung hat, ist es die erste Wahl eines regulären Parlaments. Sie schafft die Voraussetzung dafür, dass das derzeitige Übergangskabinett von einer gewählten Regierung abgelöst werden kann. Mehr als 5,2 Millionen registrierte Wähler sind landesweit aufgerufen, ihre Stimme abzugeben, etwa eine Million mehr als noch vor drei Jahren. Nach offiziellen Angaben haben sich insgesamt 22.000 Wahlbeobachter angemeldet - darunter 600 aus dem Ausland.
Bei der ersten Abstimmung 2011 wurde die Ennahda stärkste Kraft. Mit der säkularen Allianz Nidaa Tounes gibt es diesmal starke Konkurrenz. Insbesondere deren Anhänger geben sich in den Wahlbüros Tunis zu erkennen. "Es wird Zeit, dass Demokraten in Tunesien die Macht übernehmen und nicht die Islamisten", argumentieren Anis und Samia kurz nach ihrer Stimmabgabe in Lafayette. Wählerin Ichraf aus Bardo sieht das ähnlich. Sie hofft diesmal auf ein anderes Ergebnis, da das Land in der kommenden fünfjährigen Legislaturperiode vor großen Herausforderungen stehe: "Es stehen große Wirtschaftsreformen an."
Das offizielle Ergebnis der Parlamentswahl wird innerhalb eines Monats erwartet. Bis zum Jahresende wird ein neuer Präsident gewählt. Damit soll der Transformationsprozess in dem nordafrikanischen Land mit rund elf Millionen Einwohnern abgeschlossen sein.
dpa/jp - Bild: Fethi Belaid (afp)