Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat Russland einen Militäreinmarsch in sein Land vorgeworfen. "Ich habe einen Besuch in der Türkei abgesagt, (...) da eine Intervention russischer Streitkräfte in der Ukraine stattfand", erklärte Poroschenko am Donnerstag in Kiew. "Der Platz des Präsidenten ist heute in Kiew." Die Lage im Raum Donezk, darunter Amwrosijewka und Starobeschewo, habe sich "extrem verschärft", betonte er.
Der prowestliche Staatschef forderte mit Nachdruck Sondersitzungen des Weltsicherheitsrats und des EU-Rates. "Die Welt muss sich zur heftigen Verschärfung der Lage in der Ukraine äußern", forderte er. Poroschenko berief den Sicherheitsrat des Landes zu Beratungen ein.
Das ukrainische Militär hatte zuvor mitgeteilt, die Kontrolle über eine Grenzregion im Südosten weitgehend verloren zu haben, und Einheiten aus dem Nachbarland dafür verantwortlich gemacht. "Gestern gingen die Stadt Nowoasowsk sowie eine Reihe von Ortschaften der Kreise Nowoasowsk, Starobeschewo und Amwrosijewka unter die Kontrolle russischer Militärs", erklärte der nationale Sicherheitsrat in Kiew.
Moskau äußerte sich zunächst nicht zu den schweren Vorwürfen. Russland hatte wiederholt zurückgewiesen, in der Ukraine militärisch aktiv zu sein.
Nato: Mehr als 1000 russische Soldaten in der Ukraine
Russland setzt nach Angaben der Nato derzeit mehr als 1000 eigene Soldaten in der Ukraine ein. "Wir schätzen, dass deutlich mehr als 1000 russische Soldaten innerhalb der Ukraine operieren", sagte ein ranghoher Offizier der Nato am Donnerstag im militärischen Nato-Hauptquartier in Mons. "Das ist eine eher konservative Schätzung. Dahinter steht sehr große militärische Stärke."
"Sie unterstützen die Separatisten, sie kämpfen mit ihnen", sagte der Offizier. Es habe in den vergangenen beiden Wochen eine deutliche Verstärkung der russischen Militäroperationen gegeben. Im russischen Grenzgebiet zur Ukraine seien schätzungsweise rund 20.000 Soldaten stationiert. Sie seien besser ausgerüstet als zuvor eingesetzte Truppen. "Das ist eine Invasionsarmee."
Nach Nato-Angaben bedienen die in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten kompliziertes Militärgerät. Die Russen seien Ratgeber der Separatisten und befänden sich "bis zu 50 Kilometer innerhalb ukrainischen Gebiets", so der Nato-Offizier.
"Wir haben in den vergangenen Wochen eine beachtliche Eskalation der russischen Militäraktivitäten gesehen." Zur Frage, ob es Beweise für die Teilnahme russischer Soldaten an den Kampfhandlungen gebe, sagte er: "Wir sehen, dass die russischen Verluste mit unseren vertraulichen Informationen übereinstimmen." Die militärischen Aktivitäten Russlands würden immer öffentlicher unternommen.
Russland schickt weitere Panzer und Raketenwerfer
Russland hat nach Angaben der US-Regierung weitere Panzerkolonnen, gepanzerte Fahrzeuge und Raketenwerfer in die Ukraine geschickt. Russische Truppen seien 50 Kilometer hinter der Grenze auf ukrainischem Boden entdeckt worden, ohne dass Details des Einsatzes bekannt wären, teilte das Außenministerium am Mittwoch in Washington mit. Sprecherin Jen Psaki zeigte sich besorgt und sagte, dass der Einfall auf eine russische Gegenoffensive in den seit Wochen umkämpften Städten Donezk und Lugansk hindeute. Zudem seien russische Soldaten zur Beerdigung zurück in ihr Heimatland gebracht worden.
Dass Russland sich zunehmend auf den Süden der gemeinsamen Landesgrenze mit der Ukraine zu konzentrieren scheint, schürt Befürchtungen über eine möglichen Invasion der Hafenstadt Mariupol. Das ukrainische Militär hatte bereits die Vermutung geäußert, dass dort eine "zweite Front" geschaffen werden solle. Prorussische Separatisten wie auch Moskau hatten diese Vorwürfe zurückgewiesen.
Die Region Mariupol ist die Landverbindung zwischen Russland und der von Moskau im März einverleibten Halbinsel Krim. Zu Vermutungen über eine mögliche russische Landbrücke zur Krim äußerte sich Psaki nicht.
Ein ukrainischer Militärsprecher erklärte, insgesamt seien mehr als 100 russische Fahrzeuge im Osten der Ukraine unterwegs. Allerdings konnte der nationale Sicherheitsrat in Kiew diese Angaben am Abend nicht bestätigen. Kiew hat in der Vergangenheit schon häufiger von eingedrungenen Militärkonvois aus Russland gesprochen, dafür aber keine stichhaltigen Beweise vorgelegt.
Aufklärung zur Präsenz russischer Soldaten
In einem Telefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verlangte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel Aufklärung über Berichte zur Präsenz russischer Soldaten auf ukrainischem Territorium. Russland sei aufgerufen, hierzu seinen Teil beizutragen, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. Merkel habe die große Verantwortung Russlands für eine Deeskalation und für eine Überwachung der eigenen Grenze unterstrichen.
Nach Angaben des Kremls fand das Telefonat auf Initiative der deutschen Regierung statt. Putin habe Merkel dabei über einen geplanten zweiten Hilfskonvoi Moskaus für das Krisengebiet informiert. Ein erster Konvoi hatte in den vergangenen Wochen einen heftigen Streit zwischen Moskau und Kiew ausgelöst.
Zuvor hatte die Kanzlerin mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko telefoniert. Dabei appellierte sie an beide Seiten, endlich zu einem Waffenstillstand und zu einer zuverlässigen Kontrolle der Grenze zu kommen.
Am Dienstag hatten Putin und Poroschenko bei einem Treffen in Minsk ihren Willen zu einer friedlichen Lösung des Konflikts bekräftigt. Kiew wirft Moskau vor, die Separatisten im Osten mit Kämpfern und Waffen zu unterstützen. Bei ihrem ersten direkten Gespräch seit fast drei Monaten vereinbarten sie ein Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe. Die Runde besteht aus Vertretern Russlands, der Ukraine, der Aufständischen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Putin hatte in Minsk darauf bestanden, dass die Aufständischen Ansprechpartner für Kiew seien. Russland könne keine Waffenruhe beschließen. Zur Beruhigung der Lage an der Grenze sollen nach Angaben Poroschenkos Grenzschutz und Generalstäbe beider Länder Beratungen aufnehmen. Moskau wies erneut Vorwürfe einer geplanten Annexion der umkämpften Gebiete Donezk und Lugansk zurück. "Wir sind nicht daran interessiert, den ukrainischen Staat zu zerstören", sagte Außenminister Sergej Lawrow. Allerdings dürften russische Bürger in der Ostukraine nicht benachteiligt werden.
Die Kämpfe im Osten der Ukraine gingen ungeachtet aller Appelle auch am Mittwoch weiter. Sowohl die ukrainische Armee als auch die Aufständischen sprachen von Geländegewinnen.
dpa/est/jp - Bild: Fransisco Leong (afp)