Und plötzlich ist der Krieg ganz nah. Jeder von uns hätte in der Unglücksmaschine sitzen können. Das nette Paar, das letzte Woche noch neben uns im Reisebüro saß und seine Flitterwochen in Australien gebucht hat, die Nachbarsfamilie mit ihren drei Kindern oder der Geschäftsmann von gegenüber. Flug MH17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur hatte keine Soldaten oder Aufständischen an Bord, sondern 298 unschuldige Kinder, Frauen und Männer - Menschen so wie Sie und ich.
Die Niederlande werden besonders hart getroffen: Fast zwei Drittel der getöteten Passagiere stammen aus unserem Nachbarland. Oranje steht unter Schock, trauert und ist aus nachvollziehbaren Gründen entsetzt. Empörung auch bei uns in Belgien, immerhin haben sechs Landsleute bei der Flugkatastrophe das Leben verloren.
Bevor wir über Schuldige sprechen, stellt sich grundsätzlich die Frage, wie es sein kann, dass Passagierflugzeuge über ein Kriegsgebiet geleitet werden? Seit Wochen ist es im Osten der Ukraine unruhig. Die Rebellen haben schon in den vergangenen Tagen ukrainische Militärmaschinen abgeschossen. Es ist bekannt, dass beide Lager über Luftabwehrraketen verfügen.
Warum zum Teufel greifen die internationalen Flugsicherungsbehörden nicht ein und ordnen eine Verlegung der gefährlichen Flugrouten an? Warum muss es erst zum einem Unglück solch unvorstellbaren Ausmaßes kommen, bevor der Luftraum über dem Konfliktgebiet nahe Donezk gesperrt wird?
Wie jetzt bekannt wurde, könnten sich aber auch die Airlines dem Vorwurf der Fahrlässigkeit aussetzen müssen. Bereits am 1. Juli hat die Ukraine ihren Luftraum aus Sicherheitsgründen bis 32.000 Fuß - das entspricht etwa 9.500 Metern Höhe - gesperrt. Statt eine sicherere Route zu fliegen, haben die meisten Fluggesellschaften über der Ukraine lediglich ihre Flughöhe angepasst. Besonders tragisch, wenn man weiß, dass Flug MH17 in 10.000 Metern Höhe abgeschossen worden sein soll - also nur 500 Meter oberhalb der geltenden Sperrung.
Zu den politischen Schuldzuweisungen. Natürlich ist es dafür noch viel zu früh. Die genauen Umstände, die zum Massaker über den Wolken geführt haben, sind alles andere als deutlich. Soviel vorweg: Niemand kann aus dem Abschuss eines internationalen Linienflugs Profit schlagen - weder die Rebellen noch die ukrainische Armee. Vieles deutet deswegen auf ein tragisches Versehen hin. So hätten die pro-russischen Rebellen nicht das Passagierflugzeug aus Amsterdam treffen wollen, sondern eine ukrainische Militärmaschine.
Sollte sich das bewahrheiten, dann macht das diesen Abschuss noch absurder und sinnloser als er ohnehin schon ist. Sollte der vermeintliche Irrtum dagegen den Regierungstruppen aus Kiew unterlaufen sein, dann wäre das auch peinlich für die EU - hat sie doch politisch auf die neue Kraft in der Ukraine gesetzt.
Fakt ist: Der Konflikt in der Ostukraine scheint allen Beteiligten entglitten zu sein - und zwar so richtig. Niemand hat mehr die Kontrolle über das Gebiet, was die Lage sehr gefährlich macht. Besonders jetzt, nach dem mutmaßlichen Abschuss des Flugzeugs durch eine Boden-Luft-Rakete. Es droht eine unvorhersehbare Kettenreaktion, ein Schneeballeffekt, eine Lawine, die niemand mehr stoppen kann.
Auch wenn man ihm nichts nachweisen kann, Russlands Machthaber Vladimir Putin trägt eine gewisse Mitschuld - an dem Flugzeugabschuss, das sei dahingestellt, aber an der Eskalation der Gewalt in der Ostukraine ganz gewiss. Angefangen hatte alles auf der Krim, dann folgten die Aufstände im Süden und Osten, dann der blutige Konflikt. Die Kreml-treuen Rebellen und die sezessionistischen Ostukrainer werden über dunkle Kanäle aus Moskau finanziert und ebenfalls mit Waffen versorgt.
Auch wenn Putin den Aufständischen die gefährlichen Luftabwehrraketen nicht direkt in die Hand gedrückt hat, er hat sie mit kleineren Kalibern versorgt, durch die sie erst in der Lage waren, die Raketensysteme aus ukrainischen Militärkasernen zu entwenden. Dabei hätte Putin wissen müssen: Wer gestern noch in Donezk Traktor oder LKW gefahren ist, kann heute keine hochprofessionellen Raketen bedienen. Will heißen: Ein Unglück war vorprogrammiert.
Wer in der linken Hand einen offenen Benzinkanister trägt und in der rechten Hand mit Streichhölzern spielt, der muss sich nicht wundern, wenn es irgendwann explodiert. Dass der Knall so heftig ausfallen ist, hat jetzt hoffentlich auch den Zauberlehrlingen die Augen geöffnet.