Mit der Überzeugung, dass er sein Boot von jetzt an ganz allein steuere, könnte der britische Premierminister David Cameron am letzten Wochenende ins beschauliche Harpsund nach Schweden gereist sein.
Zu Bootausflug und informellem Gespräch waren hier vier konservative europäische Staatsoberhäupter zusammengekommen: der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, der schwedische Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der britische Premierminister David Cameron.
Unter anderem stand die Personalie Jean-Claude Juncker auf der Tagesordnung. David Cameron ist der derzeit vehementeste Gegner von Jean-Claude Juncker. Er will ihn auf keinen Fall als neuen Kommissionspräsidenten sehen – und das trotz des eindeutigen Votums, das der europäische Wähler am 25. Mai abgegeben hat.
Zsolt Darvas, Politikwissenschaftler am Think Tank "Bruegel" in Brüssel, gibt zu bedenken, dass die Stimme des europäischen Wählers im Postenpoker um den Kommissionspräsidenten diesmal nicht ignoriert werden kann: "Letzten Endes muss ja jeder anerkennen, dass es die Europäische Volkspartei war, die die meisten Stimmen bei dieser Europawahl bekommen hat. Und Jean-Claude Juncker war der Kandidat der Europäischen Volkspartei. Man kann ihn mögen oder nicht mögen – am Ende war er es doch, der die meiste Unterstützung vom europäischen Wähler erhalten hat."
Kritik an Juncker
Doch seit Tagen werden Misstöne gegen den Favoriten für den Kommissionsposten Jean-Claude Juncker laut. Nicht nur unter den Regierungschefs, die den Kommissionspräsidenten vorschlagen müssen, gibt es Einwände, sondern auch das britische Boulevardblatt "The Sun" greift wieder einmal Jean-Claude Junckers angebliches Alkoholproblem auf.
Doch trotz aller Kritik: den Willen des europäischen Wählers – das wissen auch die Regierungschefs – können sie nach der Europawahl 2014 nicht einfach ignorieren. "Also, das war das erste Mal überhaupt, dass viele Menschen die Europawahlen als etwas verstanden haben, bei dem sie nicht nur die Politiker ins Europaparlament wählen und bei der sie über den Kommissionspräsidenten abstimmen dürfen", so Zsolt Darvas.
"Und falls Herr Juncker nicht nominiert wird, dann werden die Menschen wieder einmal das Gefühl haben, das über ihre Köpfe hinweg hinter verschlossenen Türen Politik gemacht wird."
Bangen um Gesichtsverlust
Keiner will jetzt sein Gesicht verlieren. Das EU-Parlament steht derzeit entschieden hinter Jean-Claude Juncker. Die Regierungschefs wiederum fühlen sich vom Europaparlament in die Zange genommen. Aber es sich mit dem EU-Parlament verspielen, das wollen sie auch nicht. David Cameron wiederum droht sogar mit einem Austritt seines Landes aus der EU droht, falls Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident wird.
Zsolt Darvas glaubt, dass das alles am Ende doch nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. "Herr Cameron versucht jetzt, einen neuen Kandidaten in Spiel zu bringen und das ist ja auch ganz legitim. Aber ich denke nicht, dass diese Entscheidung Großbritanniens Verbleib in der EU irgendwie beeinflusst […] und dass der Rat eine Entscheidung fällen muss zwischen dem Willen des Parlaments und dem Verbleib Großbritanniens in der EU. Es ist sehr wahrscheinlich, dass David Cameron am Ende mit seinen Drohungen nicht zum Zuge kommt."
Zsolt Darvas ist überzeugt davon, dass jemand anderes das Ruder in die Hand nehmen wird. "Bei den meisten Entscheidungen des Rates haben die großen Mitgliedstaaten das Sagen und zurzeit ist Deutschland das stärkste Land in der Europäischen Union. Ich denke also, dass die deutsche Stimme im Rat am Ende darüber entscheiden wird, wer der neue Kommissionspräsident wird", so Darvas.
Einigung oder Ehrenrunde?
Den Druck auf David Cameron hat Angela Merkel in den letzten Tagen erhöht. Im Boot im schwedischen Harpsund hielten sich auch Mark Rutte und Fredrik Reinfeld zur Personalfrage um Jean-Claude Juncker bedeckt. In jedem Fall aber sollten die Regierungschefs sich in zwei Wochen auf einen Namen geeinigt haben. So zumindest will es der offizielle EU-Fahrplan.
Geht bis dahin vielleicht Jean-Claude Juncker von Board? Oder sitzt er im Boot und Cameron steigt aus? Oder das Boot dreht am Ende möglicherweise doch noch eine Ehrenrunde.
Bild: Jonathan Nackstrand/AFP