Die ukrainische Regierung hat nach eigenen Angaben ihren lange angekündigten Spezialeinsatz gegen die prorussischen Separatisten im Osten des Landes gestartet. Interimspräsident Alexander Turtschinow sagte im Parlament in Kiew, dass die Offensive begonnen habe. Die Einheiten würden im Norden des Gebiets Donezk nahe der Grenze zu Russland vorrücken. "Ziel ist der Schutz der Bürger vor Terroristen, die das Land zerreißen wollen", sagte Turtschinow. Russland forderte einen sofortigen Stopp des Einsatzes und warnte vor einem Scheitern der Genfer Gespräche über die Ukraine.
Vor dem geplanten Krisentreffen an diesem Donnerstag in der Schweiz führten Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Präsident Barack Obama ein Krisengespräch. Nach Angaben des Weißen Hauses äußerte sich Obama am Montagabend (Ortszeit) sehr besorgt darüber, dass die Regierung in Moskau die prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine unterstütze. Putin bestritt dem Kreml zufolge eine Einmischung und forderte seinerseits Obama auf, seinen Einfluss in der Ukraine geltend zu machen, um ein Blutvergießen und den Einsatz von Gewalt zu verhindern.
In mehreren Orten im Osten der Ex-Sowjetrepublik halten Separatisten Verwaltungsgebäude besetzt. Sie fordern einen föderalen Staat mit weitgehenden Autonomierechten für das russisch geprägte Gebiet.
Tote bei Schusswechsel
Bei Schusswechseln sollen nach Darstellung der Aktivisten mehrere Menschen verletzt worden sein. Regierungskräfte hätten am frühen Dienstagmorgen das Feuer auf Straßensperren vor Slawjansk eröffnet, sagte ein Sprecher der Separatisten. Bewaffnete hätten die Stadt umstellt. Dort bereiteten sich die nach Moskau orientierten Selbstverteidigungskräfte auf einen Angriff vor.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow warnte erneut vor einem Scheitern der geplanten Genfer Gespräche, sollte die Regierung in Kiew Gewalt gegen die Separatisten anwenden. Die Chancen für direkte Verhandlungen zwischen Russland, der Ukraine, den USA und der EU würden dann erheblich sinken, sagte er bei einem Besuch in Peking.
Moskau sei daran interessiert, dass die für diesen Donnerstag vorgesehene Zusammenkunft zustande komme, beteuerte Lawrow. Vorwürfe der prowestlichen Regierung in Kiew, dass Russland die Unruhen in der Ostukraine mit Provokateuren schüren würde, seien "Unsinn", sagte er.
In Kiew griffen unterdessen Unbekannte zwei prorussische Präsidentenkandidaten an. Der Politiker Oleg Zarjow wurde von einer Menge mit Schlägen traktiert und ließ sich anschließend in einer Klinik behandeln. Zarjows Mitarbeiter machten Rechtsextreme für die Attacke verantwortlich. Der Kandidat Michail Dobkin wurde von einer Gruppe erst mit Mehl und dann mit Farbe überschüttet. Die Präsidentenwahl in der Ex-Sowjetrepublik soll am 25. Mai stattfinden.
Janukowitsch mitverantwortlich für Unruhen
Moskaus Regierungschef Dmitri Medwedew machte den nach Russland geflohenen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch mitverantwortlich für die Unruhen. Die damalige prorussische Führung in Kiew habe die ersten Proteste der Opposition um Ex-Boxer Vitali Klitschko nicht ernst genommen. "Jetzt fließt Blut, und das Land steht am Rande eines Bürgerkrieges. Sehr traurig", meinte Medwedew.
Eine Sprecherin der prorussischen Separatisten, Jekaterina Gubarewa, sagte, die Aktivisten in der Ostukraine seien keine Terroristen. Es gebe weder Plünderungen noch Vandalismus - viele Menschen in der Region seien "einfach enttäuscht" über die neue Regierung in Kiew.
Der ukrainische Interimspräsident Turtschinow hatte sich am Vortag offen gezeigt für ein landesweites Referendum über die künftige Struktur der Ukraine. Auch Regierungschef Arseni Jazenjuk rief die Demonstranten in der Ostukraine zum Dialog auf.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn begrüßte das von der Regierung in Aussicht gestellte Referendum. "Ich bin überzeugt, dass sich in der Ostukraine nicht dasselbe Phänomen abspielt wie auf der Krim", sagte er im rbb-Inforadio. Die Teilnahme der Menschen (an den Protesten) sei geringer. "Es gibt keine Massenbewegungen, keine Massendemonstrationen", sagte Asselborn. Wenn dies durch einen demokratischen Akt belegt würde, könne das sehr viel bedeuten - "für die Ukraine, aber auch für Russland".
Rasmussen: Nato hält an "geeigneten Stationierungen" fest
Die Nato hält angesichts der Krise um die Ukraine an der Absicht einer "geeigneten Stationierung" von Militär in den östlichen Bündnisländern fest. "Wir prüfen derzeit weitere Schritte zur Stärkung unserer gemeinsamen Verteidigung", sagte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Dienstag in Luxemburg am Rande eines Treffens der EU-Verteidigungsminister. "Dazu gehört, was ich geeignete Stationierungen nennen würde." Es sei allerdings "ein bisschen zu früh, um in Details zu gehen".
Vor dem Hintergrund der Stationierung von Zehntausenden russischer Soldaten in unmittelbarer Nähe der ukrainischen Grenze hatte die Nato bereits die Präsenz von Kampfflugzeugen in Polen und den baltischen Staaten erhöht. Nach Angaben von Diplomaten wird unter anderem auch über Nato-Manöver im Osten des Bündnisgebietes nachgedacht.
"Wir diskutieren nicht über militärische Optionen", sagte Rasmussen. "Wir glauben, dass der richtige Weg darin besteht, eine politische und diplomatische Lösung zu finden." Für die Nato gebe es keinen Zweifel daran, dass Russland hinter der Destabilisierung der Ukraine stehe. "Das russische Betragen und die Agieren an Ort und Stelle sprechen für sich. Nach allem was man sieht, ist sehr klar, dass Russland stark beteiligt ist."
EU sperrt Konten des Ex-Ministerpräsidenten Arbusow
Die EU hat jetzt auch die Konten des einstigen kommissarischen Ministerpräsidenten der Ukraine, Sergej Arbusow, in der Europäischen Union gesperrt. Der Vertraute des früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch ist einer von vier Ukrainern, die neu auf die Liste gesetzt wurden. Ihre Namen wurden am Dienstag im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.
Damit ist die Zahl der Personen, die wegen des Verdachts auf Veruntreuung staatlicher ukrainischer Gelder keinen Zugriff mehr auf Konten in der EU haben, von bisher 18 auf 22 gestiegen. Ein entsprechender Sanktionsbeschluss war am Montag in Luxemburg von den EU-Außenministern gefasst worden.
Außerdem hatten die Minister beschlossen, eine zweite, bisher 33 Namen umfassende Liste von Ukrainern und Russen, die die Annexion der Krim unterstützt haben, zu erweitern. Dies ist aber noch nicht konkret geschehen.
Außer Arbusow wurden auch der ehemalige ukrainische Energieminister Edward Stawitzki, der für Steuern zuständige Minister Oleksandr Klymenko und der Abgeordnete Juri Iwanjuschtschenko auf die Liste gesetzt. Ex-Präsident Janukowitsch steht auch darauf.
Einheiten bei Slawjansk und Kramatorsk - Feuergefecht um Flugplatz
Ukrainische Regierungseinheiten und prorussische Separatisten haben sich bei der ostukrainischen Stadt Kramatorsk schwere Gefechte um den Flugplatz geliefert. Dabei hätten die Sicherheitskräfte den Landeplatz der Stadt rund 80 Kilometer nördlich von Donezk unter ihre Kontrolle gebracht, sagte Interimspräsident Alexander Turtschinow am Dienstag. Das russische Staatsfernsehen berichtete von mindestens vier Toten. Die nach Moskau orientierten Aktivisten sprachen von einem Verletzten in ihren Reihen. Eine offizielle Bestätigung für die Opferzahlen gab es zunächst nicht. Das Verteidigungsministerium in Kiew hatte zuvor mitgeteilt, dass in Kramatorsk ein Spezialeinsatz begonnen habe.
Russland will die für den 25. Mai geplante Präsidentenwahl in der krisengeschüttelten Ukraine nicht anerkennen. Moskau werde deshalb zu der "illegitimen" Abstimmung auch keine Beobachter entsenden, sagte der Duma-Abgeordnete Leonid Sluzki am Dienstag der Agentur Interfax zufolge in Moskau. Staatschef Viktor Janukowitsch sei im Februar im Widerspruch zu ukrainischen Gesetzen entmachtet worden. Der kremltreue Politiker Sluzki befindet sich seit dem russischen Anschluss der Krim auf der US-Sanktionsliste.
In der Ostukraine standen Augenzeugen zufolge zahlreiche gepanzerte Fahrzeuge bei Slawjansk. Auch aus dem Raum Kramatorsk kamen Berichte über gesichtete Sicherheitskräfte und Flugzeuge. Die prowestliche Regierung in Kiew hatte am Morgen eine "Anti-Terror-Operation" begonnen, um prorussische Separatisten zum Rückzug zu zwingen. Bei Schusswechseln bei Slawjansk waren am Morgen nach Angaben der Separatisten acht Männer verletzt worden.
"Die Soldaten haben hohen Kampfgeist und hohe Bereitschaft, die Ukraine an der Front zu verteidigen", sagte der Chef des ukrainischen Sicherheitsrats, Andrej Parubij. Kremlchef Wladimir Putin ließ unterdessen Berichte zurückweisen, russische Truppen hätten die Grenze zur Ukraine überschritten. "Das sind absurde Behauptungen", sagte Präsidentensprecher Dmitri Peskow.
OSZE-Beobachter in Ukraine
Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, halten sich zur Zeit in der Ukraine auf. Das hat das Außenministerium in Kiew mitgeteilt. Zu den Beobachtern gehören auch Belgier. In der Delegation vertreten sind ebenfalls Vertreter der Niederlande, aus Schweden, Georgien und Luxemburg. Aufgabe der OSZE-Mission ist es, sich ein Bild von der Lage im Südosten der Ukraine zu machen.
Reisewarnung für die Ukraine verschärft
Das Außenministerium in Brüssel hat seine Reisewarnung für die Ukraine verschärft. Wegen der angespannten Lage sollte man auf Reisen in den Osten und den Süden des Landes verzichten. Das gilt ebenfalls für die Krim.
Belgiern, die sich in der Ukraine aufhalten, wird geraten, besonders wachsam zu sein und sich regelmäßig darüber zu informieren, wo Proteste und Demonstrationen geplant sind.
belga/dpa/est/mh - Foto: Alexey Kravtsov (afp)