In Kiew reißt die Gewalt reißt auch nach den schweren Straßenschlachten mit mindestens 26 Toten und vermutlich mehr als 1000 Verletzten nicht ab. Auf dem zentralen Unabhängigkeitsplatz (Maidan) setzten am Mittwoch starke Polizeikräfte Wasserwerfer gegen verbarrikadierte Demonstranten ein. Die Regierungsgegner schleuderten immer wieder Steine, Feuerwerkskörper und Brandsätze auf die Sicherheitskräfte. Die ukrainische Führung zeigt sich kompromisslos.
Der geschäftsführende Regierungschef Sergej Arbusow warf der Opposition einen versuchten Staatsstreich vor. Wegen dieses Vorwurfs leitete der Geheimdienst SBU Ermittlungen gegen "einzelne Politiker" ein. Namen nannte der SBU zunächst nicht. Präsident Viktor Janukowitsch verteidigte den Einsatz von Gewalt. Die Opposition habe die "Grenzen überschritten", als sie ihre Anhänger auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew "zu den Waffen gerufen" habe.
Das Außenministerium forderte die internationale Gemeinschaft zu "maximaler Objektivität" bei der Einschätzung der Lage auf. Die Proteste hatten im November begonnen, nachdem Janukowitsch ein unterschriftsreifes Abkommen mit der Europäischen Union auf Eis gelegt und sich Russland zugewandt hatte. Moskau gewährte dem finanziell klammen Nachbarn Milliardenkredite.
Radikale Regierungsgegner rüsteten sich für neue Zusammenstöße. Von der Bühne auf dem Maidan riefen Redner dazu auf, die Barrikaden zu verstärken. Die meisten Zelte der Regierungsgegner auf dem symbolisch wichtigen Platz brannten ab. Über dem Maidan standen große, giftige Rauchwolken. Die Untergrundbahn der Millionenstadt war weiter komplett gesperrt. Etwa 60 Kindergärten und Schulen im Zentrum blieben aus Sicherheitsgründen geschlossen.
26 Tote
Die Zahl der Toten bei den blutigen Straßenkämpfen in Kiew stieg nach offiziellen Angaben auf 26. Mindestens zehn Polizisten seien bei den Ausschreitungen ums Leben gekommen, teilte das Innenministerium der Ex-Sowjetrepublik mit. Das Gesundheitsministerium sprach von mehr als einem Dutzend getöteter Demonstranten. Ein Journalist der Kiewer Tageszeitung "Westi" wurde von unbekannten Maskierten erschossen. Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld für die Eskalation.
Aus dem Gewerkschaftshaus am Maidan, das der Opposition als Hauptquartier diente, wurden wegen eines Feuers etwa 40 Menschen in Sicherheit gebracht. Das Innenministerium warf radikalen Kräften vor, sie hätten das Gebäude in Brand gesetzt, um Waffen und Dokumente zu vernichten. In der ganzen Stadt seien etwa 60 Regierungsgegner festgenommen worden, teilte die Polizei mit. Das Innenministerium leitete etwa 40 Ermittlungsverfahren wegen Massenunruhen ein.
Präsident Janukowitsch erklärte diesen Donnerstag (20. Februar) zum landesweiten Tag der Trauer. Zum Gedenken an die Toten sollten an allen staatlichen Gebäuden die Fahnen auf Halbmast gesenkt werden, ordnete Janukowitsch an. Zudem sollten Konzerte und Sportveranstaltungen abgesagt werden. Fernseh- und Radiosender wurden aufgefordert, ihr Programm "angemessen" zu ändern.
Die renommierte Ärztin Olga Bogomolez sprach von mehr als 1000 verletzten Demonstranten. Zudem wurden etwa 300 Sicherheitskräfte verletzt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden insgesamt mehr als 600 Menschen in Kliniken gebracht.
Am Dienstag war ein Protestzug radikaler Demonstranten zum Parlament eskaliert. Tausende Menschen forderten eine Verfassungsänderung, um die Vollmachten des Präsidenten zugunsten der Regierung zu beschneiden.
Klitschko enttäuscht
Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko zeigte sich enttäuscht über den ergebnislosen Verlauf eines nächtlichen Krisentreffens mit dem Präsidenten. Janukowitsch reagiere unpassend auf die Lage. Der prorussische Staatschef müsse die Einheiten sofort zurückziehen. Klitschkos Sprecherin betonte, dass neue Gespräche zunächst nicht geplant seien.
Janukowitsch warf den Regierungsgegnern seinerseits den Versuch einer gewaltsamen Machtübernahme vor. Sollten sich die Oppositionsführer nicht von radikalen Kräften distanzieren, werde er "andere Töne anschlagen", drohte der Präsident. Die Demonstranten seien "Kriminelle, die vor Gericht gehören".
Der kommissarische Verteidigungsminister Pawel Lebedew ordnete an, Luftlandetruppen zur Verstärkung nach Kiew zu verlegen. Die Soldaten der 25. Brigade aus der Großstadt Dnjepropetrowsk sollten Waffen- und Munitionsdepots sichern, sagte Lebedew.
Am Morgen kamen aus dem antirussisch geprägten Westen des Landes Busse mit weiteren Demonstranten in Kiew an. Im Osten des Landes gingen hingegen mehrere Büros von Oppositionsparteien in Flammen auf. Vertreter des russischen Außenministeriums wollten in der ukrainischen Hauptstadt Gespräche über einen Ausweg aus der Krise führen.
Ukrainisches Militär darf gegen radikale Demonstranten vorgehen
Das ukrainische Militär kann nach eigener Darstellung an dem angekündigten landesweiten "Anti-Terror-Einsatz" des Geheimdiensts SBU gegen radikale Regierungsgegner teilnehmen. Soldaten hätten unter anderem das Recht, Schusswaffen einzusetzen und Personen festzunehmen, teilte das Verteidigungsministerium in Kiew am Mittwoch mit. Beobachter sprachen davon, damit werde im Prinzip ein Ausnahmezustand im Land ermöglicht. Geregelt sei die Beteiligung des Militärs in Artikel 15 des Anti-Terror-Gesetzes, hieß es in der Mitteilung.
Der SBU hatte zuvor Regierungsgegnern "konkrete terroristische Akte" vorgeworfen. Bislang gibt es keinen Hinweis darauf, dass das Militär in die Auseinandersetzungen eingreift.
dpa/jp/mh - Bild: Sergei Supinsky (afp)