Bei Zusammenstößen von Demonstranten und der Polizei in der Ukraine soll ein weiterer Aktivist ums Leben gekommen sein. Ein Mann sei in einer Klinik seinen Brustverletzungen erlegen, teilte das Gesundheitsamt in Kiew am Samstag örtlichen Medien zufolge mit. Nach seiner Einweisung am vergangenen Mittwoch sei der Verwundete zweimal operiert worden.
Über die Hintergründe der Verletzungen machte die Behörde zunächst keine Angaben. Hingegen sagte eine Sprecherin der Demonstranten, es handele sich um einen 45-jährigen Regierungsgegner aus der Westukraine. Sie machte die Polizei für den Tod verantwortlich. Bisher haben die Behörden drei Opfer bestätigt.
Im ukrainischen Machtkampf ist es nach einem kurzen Waffenstillstand zu neuen Zusammenstößen zwischen gewaltbereiten Demonstranten und Sondereinheiten der Polizei gekommen. Die Sicherheitskräfte drohten den hinter Barrikaden verschanzten Regierungsgegnern in Kiew am Samstag mit einer Offensive, sollten sie nicht zwei entführte Milizionäre herausgeben. Die Demonstranten wiesen die Schuld am Verschwinden der Polizisten zurück.
Nach dem Agrarministerium besetzten Regierungsgegner Büros des Energieministeriums. Der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch ernannte unterdessen seinen Vertrauten Wladimir Makejenko zum neuen Chef der Verwaltung in Kiew. Der bisherige Parlamentsabgeordnete Makejenko, der in Russland geboren ist, gilt als Befürworter einer "harten Linie" gegen die prowestlichen Demonstranten.
Klitschko appelliert in Videobotschaft an Behörden in der Ukraine
Oppositionspolitiker Vitali Klitschko hat in einer Videobotschaft Sicherheitskräfte und Justiz aufgerufen, sich nicht an Repressionen gegen das Volk zu beteiligen. "Führen Sie keine verbrecherischen Befehle aus und lassen Sie sich nicht zu ungerechten und illegalen Handlungen hinreißen", sagte Klitschko in dem einminütigen Clip, den seine Partei Udar (Schlag) am Samstag in Kiew veröffentlichte. Die Behörden seien zum Schutz der Menschen da. "Handeln Sie nach Berufsehre, Würde, Tapferkeit und Gewissen", appellierte er.
Vitali Klitschko ist am Samstag erneut zu einem Krisentreffen mit dem prorussischen Staatschef Viktor Janukowitsch zusammengekommen. Klitschko fordert unter anderem den Rücktritt von Janukowitsch. An den Gesprächen im Präsidialamt in Kiew nahmen für die prowestlichen Regierungsgegner auch Ex-Parlamentschef Arseni Jazenjuk sowie Nationalistenführer Oleg Tjagnibok teil, wie die Verwaltung des Staatsoberhaupts mitteilte. Thema sei die Suche nach einer Lösung der politischen Krise. Über die Dauer des Treffens war nichts bekannt. Die bisherigen Gespräche beider Seiten waren ergebnislos verlaufen.
Der Oppositionspolitiker Arseni Jazenjuk sprach sich mit Nachdruck für eine Beteiligung des Europarats zur Beilegung des seit zwei Monaten andauernden Konflikts in der Ex-Sowjetrepublik aus. "Ohne Vermittlung unserer westlichen Partner wird die politische Krise nur schwer zu beenden sein", sagte er nach einem Treffen mit EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle in Kiew. Füle forderte beide Seiten auf, die Gewalt zu stoppen und den Dialog fortzusetzen.
Präsident Janukowitsch stellte zuletzt zwar Zugeständnisse in Aussicht. Die Regierungsgegner sehen dies jedoch nur als "Hinhaltetaktik". Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko fordert Janukowitschs Rücktritt. Der Präsident versuche, sich "um den Preis von Blut und Destabilisierung an der Macht zu halten", sagte der frühere Boxer.
In der Nacht wieder Steine und Brandsätze geworfen
Demonstranten in Kiew warfen in der Nacht wieder Steine und Brandsätze auf Sicherheitskräfte. Polizisten attackierten Regierungsgegner mit Blendgranaten und Tränengas. Erneut brannten Barrikaden. Für zusätzliche Spannungen sorgte eine Mitteilung des Innenministeriums, dass abseits der Zusammenstöße die Leiche eines Polizisten gefunden wurde. Die Hintergründe waren zunächst unklar.
Bis zur Nacht hatten die Behörden drei tote Aktivisten bestätigt. Hunderte Menschen wurden verletzt, darunter auch viele Sicherheitskräfte. Die USA forderten Janukowitsch auf, keine Gewalt gegen Demonstranten anzuwenden. Gemeinsam mit der EU dränge man darauf, dass die ukrainische Regierung konstruktiv auf die friedlichen Proteste reagiere, erklärte US-Außenminister John Kerry am Freitag beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Diplomaten der USA würden vor Ort bei Janukowitsch auf eine Beruhigung der Lage und eine Lösung auf dem Weg des Dialogs hinwirken. "Wir werden weiter auf der Seite des Volkes der Ukraine stehen", sagte Kerry.
Im nationalistisch geprägten Westen des Landes hielten Demonstranten in mehreren Städten weiter offizielle Gebäude besetzt. In Winniza stürmten Regierungsgegner den Sitz des örtlichen Rats. Die Miliz lasse die Demonstranten gewähren, sagte ein Parteikollege der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow lobte unterdessen in Moskau die Rolle des Westens als "konstruktiver" als zu Beginn des Machtkampfs in Kiew. Bei Gesprächen am Rande der Syrien-Friedenskonferenz in Montreux habe er den Eindruck gewonnen, dass Spitzenpolitiker der EU und USA mittlerweile die Lage in der Ukraine "besser verstehen" würden, sagte er im Staatsfernsehen.
Die Proteste waren ausgebrochen, nachdem Janukowitsch im November auf Druck Russlands ein von der Opposition als historische Chance betrachtetes Annäherungsabkommen mit der EU auf Eis gelegt hatte.
Gesetze zur Versammlungs- und Pressefreiheit überarbeiten
Unklar war, ob Janukowitsch am Dienstag das gesamte Kabinett oder nur besonders umstrittene Politiker wie Regierungschef Nikolai Asarow oder Innenminister Witali Sachartschenko entlassen würde. Der Präsident kündigte des weiteren an, gemeinsam mit der Opposition die umstrittenen Gesetze zur Versammlungs- und Pressefreiheit zu überarbeiten, die die monatelangen Proteste angeheizt hatten. Zudem versprach Janukowitsch, diejenigen festgenommen Demonstranten zu begnadigen, die keine schweren Straftaten begangen hätten.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz schlug eine internationale Konferenz zur Ukraine vor. "Wir müssen der Ukraine zunächst die Chance geben, den Dialog selbst zu führen. Lässt sich dadurch die Lage nicht beruhigen, dann wäre ein internationaler Dialog sicherlich hilfreich", sagte der SPD-Politiker der "Bild"-Zeitung (Samstag).
Aktivisten errichteten neue Posten etwa an der stark genutzten Metrostation Kreschtschatik. Zudem besetzten sie das Agrarministerium. Die Ukraine ist das wichtigste Transitland für russische Gaslieferungen in die Europäische Union.
Im nationalistisch geprägten Westen der Ex-Sowjetrepublik besetzten Demonstranten in verschiedenen Städten offizielle Gebäude. "Heute sind es nur ein paar Städte - morgen werden es aber viel mehr. Heute sind es nur ein paar Barrikaden - morgen aber noch mehr", betonte Klitschko.
Das Parlament im Nachbarland Polen verurteilte in einer Erklärung die Eskalation der Gewalt scharf. Auch Litauen bestellte den ukrainischen Botschafter in Vilnius ein. In Russland beriet Kremlchef Wladimir Putin die Lage im "Bruderstaat" mit dem Sicherheitsrat.
dpa/jp/sd - Bild: Sergei Supinsky (afp)