Mit den ersten tödlichen Schüssen auf Demonstranten in Kiew eskaliert die Gewalt in der ukrainischen Hauptstadt. Radikale Gegner des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch liefern sich blutige Straßenschlachten mit Sicherheitskräften. Stapelweise brennen Reifen, giftiger schwarzer Qualm liegt über dem Zentrum - es wirkt wie ein düsteres Omen.
Im Schneetreiben rücken Spezialeinheiten mit Schützenpanzern vor. Oppositionelle ducken sich hinter ausgebrannten Stahlskeletten von Einsatzfahrzeugen. Als Waffen dienen Steine und Molotow-Cocktails sowie Blendgranaten und Wasserwerfer bei Minusgraden. Und nun offenbar auch erstmals scharfe Munition - drei Männer sind erschossen worden.
Damit wäre eine historische Grenze überschritten, meint auch der deutsche Botschafter Christof Weil. Denn trotz aller Krisen und bisweilen gewaltsamer Proteste: Noch nie sind bei politischen Krisen in der seit 1991 unabhängigen Ex-Sowjetrepublik Schusswaffen eingesetzt worden. Im Gegenteil - bislang galt die Ukraine stets als Beispiel für friedlichen Machtwechsel, etwa bei der demokratischen Orangenen Revolution 2004. Jetzt aber ist der Widersacher - Janukowitsch - von damals an der Macht. Und erstmals fließt Blut, beide Seiten beklagen Hunderte Verletzte.
Verantwortlichkeit unklar
Das Machtlager und die gemäßigte prowestliche Opposition um Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko machen sich gegenseitig verantwortlich für die Opfer. Kiew ist voller Gerüchte. Wer die tödlichen Schüsse abgefeuert hat, ist noch unklar. Unkontrollierte Spezialeinheiten oder vielleicht ultraradikale Provokateure? Neutrale Beobachter neigen zur ersten Möglichkeit. Angeblich sind Scharfschützen im Einsatz. Fakt ist aber: Einen offiziellen Schießbefehl haben die Einsatzkräfte nicht.
Vor allem westliche Experten halten auch Aufforderungen Russlands an die Regierung in Kiew, sich das Treiben nicht gefallen zu lassen, für brandgefährlich. Mit Milliarden Euro hat Kremlchef Wladimir Putin kürzlich den finanziell schwer angeschlagenen Nachbarn gestützt. Und in der Tat führte die Hilfe kurzfristig zu einer Entspannung, die dicken Schecks aus Moskau machen so manchem Hoffnung.
Aber längst gibt es zahlreiche Bürger, denen es darum geht, in einem anderen System zu leben. Vor allem junge Menschen machen bei den friedlichen Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz - dem Maidan - ihrer Sehnsucht nach einer Zukunft in einem freien Europa Luft. Sie fordern auf Dauer gleiche Bedingungen wie in der nahen EU mit visafreiem Reisen und ein Leben ohne Korruption. Diesen Traum hatte ihnen Janukowitsch genommen, als er Ende November ein weitreichendes Abkommen mit der EU auf Drucks Russlands verweigerte.
Spätestens mit den Todesschüssen steigt der Druck auf den ohnehin kaum beliebten Präsidenten, zurückzutreten und den Weg für einen Neuanfang frei zu machen. Die Wut auf die "Banditen" aus dem prorussischen Osten des Landes ist gewaltig. "Das Regime Janukowitsch ist eine Vereinigung von Kriminellen mit dem Staatsapparat", schimpft der Oppositionspolitiker und frühere Innenminister Juri Luzenko.
Dass Regierungschef Nikolai Asarow ungeachtet der Gewalteskalation zum Wirtschaftsforum ins Schweizer Davos fliegt, ist für viele der endgültige Beweis, dass der Führung das Volk egal ist und sie nur noch den eigenen Machterhalt sichern will. "Nieder mit der Diktatur!", lautet die neue Parole auf der Straße.
Krisentreffen
Ein Krisentreffen von Janukowitsch und den Oppositionsführern gilt als letzte Hoffnung auf einen Ausweg aus der innenpolitischen Krise. Aber die Fronten sind verhärtet: Die Regierungsgegner beharren auf dem Rücktritt Janukowitschs und vorgezogenen Präsidentenwahlen, die bislang für 2015 geplant sind. Und sie verlangen die Rücknahme drakonischer Gesetze, die seit Mittwoch die Pressefreiheit und das Versammlungsrecht massiv einschränken.
Timoschenko ruft zum Aufstand auf
Nach den tödlichen Schüssen auf Regierungsgegner hat die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko die Ukrainer zum Aufstand gegen Präsident Viktor Janukowitsch aufgerufen. "Das Blut der Helden der Ukraine klebt an den Händen von Janukowitsch", teilte die Ex-Regierungschefin am Mittwoch mit. Die 53-Jährige forderte die Sicherheitskräfte auf, zu den Demonstranten überzulaufen: "Belastet Eure Seelen nicht mit dem Blut von Ukrainern". Die wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilte Politikerin betonte, die internationale Gemeinschaft müsse eine "zweite große Front" gegen die "Diktatur" eröffnen.
Den nationalistisch geprägten Westen um die Großstadt Lwiw (Lemberg) nahe der Grenze zur EU hat die Regierung ohnehin verloren. Hier haben radikale Oppositionelle das Sagen, von hier aus brechen täglich Hunderte zumeist junge Regierungsgegner in Richtung Kiew auf. Schon warnen Experten vor einem Zerfall des zweitgrößten Flächenstaats Europas, dem wichtigen Transitland für russisches Gas nach Westen.
EU droht mit Konsequenzen
„Die Gewalt muss sofort beendet werden“, sagte EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso und forderte die Regierung in Kiew auf, in der Krise auf Deeskalation hin zu arbeiten. Andernfalls drohten Konsequenzen.
Barroso sagte wörtlich: „Wenn es eine systematische Verletzung von Menschenrechten gibt - wie etwa Schüsse auf friedliche Demonstranten oder schwerwiegende Angriffe auf Versammlungs-, Meinungs- und Medienfreiheit, dann müssen wir unsere Beziehung zur Ukraine überdenken.
Konkrete Konsequenzen nannte Barroso aber nicht. Auch im NATO-Hauptquartier in Brüssel ist man besorgt und verfolgt man die Lage ganz genau. Der Generalsekretär des Verteidigungsbündnisses, Anders Fogh Rasmussen verurteilte die Gewalt aufs Schärfste.
dpa/cd Bild: afp / Dimitrw Serebryakov