Ein führendes Mitglied der rechtsnationalen ungarischen Regierung hat die Mitverantwortung seines Landes am Massenmord der Nazis an den Juden anerkannt. "Auch die Ungarn sind für den Holocaust mitverantwortlich", sagte der stellvertretende Regierungschef Tibor Navracsics, der auch Justizminister seines Landes ist, am Dienstag in Budapest zum Auftakt einer internationalen Konferenz über Antisemitismus und jüdisches Leben in Europa.
Er vertrat den ursprünglich als Eröffnungsredner vorgesehenen Regierungschef Viktor Orban, der sich wegen einer Fußverletzung kurzfristig entschuldigen ließ. Israels Finanzminister Jair Lapid berichtete in seiner Rede, wie sein Vater als ungarischer Jude 1945 der Ermordung durch die Nazis in Budapest knapp entkommen war.
Navracsis, geboren 1966, beklagte, dass in seiner Jugend während des Kommunismus in Ungarn zu wenig und zu unvollständig über die ungarische Rolle während des Holocaust gesprochen worden sei. Heute stehe man vor dem Dilemma, wo die Grenze zu ziehen sei zwischen freier Meinungsäußerung und rassistischen Hassreden, sagte der Minister mit Blick auf häufige Anzeichen des Antisemitismus in Ungarn. Ziel seiner Regierung sei es, zu erreichen, dass jede nationale oder religiöse Minderheit sich in Ungarn sicher fühle.
Erziehung das wichtigste Mittel im Kampf gegen Antisemitismus
Minister Lapid erzählte, wie sein Vater, der spätere israelische Journalist und Politiker Tommy Lapid (1931-2008), als 13-Jähriger mit seiner Mutter der Ermordung durch die Nazis entkam. Als die Nazis 1945 kurz vor dem Einrücken der Sowjetarmee noch Gruppen Budapester Juden zur Donau trieben, um sie zu erschießen, habe sich Lapids Vater in einem Toilettenhäuschen an der Margaretenbrücke versteckt. Dieses Häuschen stehe heute noch, erzählte der Sohn Lapid jetzt. Er wolle seine Gastgeber nicht verletzen, müsse aber sagen, dass zehntausende Ungarn Helfer der Nazis waren, sagte der Gast aus Israel.
Die Budapester jüdische Gemeinde ist mit etwa 100.000 Mitgliedern die drittgrößte in Europa, nach London und Paris. Andras Heisler, Vorsitzender des Verbands der Jüdischen Gemeinden Ungarns (MAZSIHISZ), beklagte, dass auch ausgewiesene antisemtische Autoren wie Albert Wass und Jozsef Nyirö heute ungarischen Schülern zur Lektüre empfohlen würden. Erziehung sei das wichtigste Mittel im Kampf gegen den Antisemitismus, betonte Heisler. Deshalb habe sein Verband sich mit Nachdruck ein Mitspracherecht bei der laufenden Erstellung neuer Schul-Lehrpläne erkämpft.
Veranstalter der zweitägigen Konferenz ist das staatliche und privat geförderte, 2011 gegründete Budapester Tom-Lantos-Institut. Es trägt den Namen des einzigen ungarischen Holocaust-Überlebenden, der Volksvertreter in den USA wurde. US-Senator Tom Lantos (1928-2008) hat sich auch als Lobbyist für Ungarn einen Namen gemacht. Er war noch seit gemeinsamen Budapester Kindheitstagen mit Tommy Lapid befreundet.
dpa - Bild: Attila Kisbenedec (afp)