Es ist ein Blutbad mit Ansage: Die Polizei vertreibt in Kairo die Islamisten aus den Protestlagern, und im ganzen Land kommen bei Straßenschlachten am Mittwoch mindestens 95 Menschen ums Leben. Zudem seien 874 Menschen verletzt worden, meldete das Staatsfernsehen. Unter den Todesopfern ist auch ein Kameramann des britischen Senders Sky News.
Nach Angaben des ägyptischen Innenministeriums wurden auch sechs Polizisten getötet. Mohammed al-Beltagi, ein führendes Mitglied der Muslimbruderschaft, sagte, auch seine Tochter sei bei der Stürmung des Protestlagers vor der Rabea-al-Adawija-Moschee getötet worden. Der Kamermann von Sky News, Mick Deane, wurde nach Angaben des Senders getroffen, als er während der Unruhen in Kairo im Einsatz war. Die Polizei setzte bei der gewaltsamen Räumung der beiden Protestcamps erst Tränengas ein. Die Islamisten gingen mit Steinen und Flaschen auf Sicherheitskräfte los, später fielen Schüsse.
Gewalttätige Übergriffe radikaler Islamisten
Nach Beginn der Räumung kam es in mehreren Provinzen zu gewalttätigen Übergriffen radikaler Islamisten. Auf dem Sinai stürmten bewaffnete Männer mehrere öffentliche Gebäude. In Oberägypten griffen Islamisten nach Darstellung christlicher Aktivisten vier Kirchen an. In der Innenstadt von Luxor protestierten rund 300 Demonstranten gegen die Polizeigewalt. In Marsa Matruh geriet nach Informationen des Nachrichtenportals youm7 das Justizgebäude bei Straßenschlachten zwischen Mursi-Anhängern und der Polizei in Brand.
Das Innenministerium ordnete die Einstellung des Zugverkehrs von und nach Kairo an, offensichtlich um die Bewegungsfreiheit von Protestgruppen einzuschränken. Die Islamisten hatten die Zeltlager in Kairo vor fünf Wochen errichtet, um Mohammed Mursis Wiedereinsetzung zu erzwingen. Das Militär hatte den Präsidenten am 3. Juli nach Massenprotesten abgesetzt.
Die Muslimbrüder erklärten, die Zahl der Todesopfer sei höher als von den Behörden angegeben. Ein Helfer im Lazarett der Demonstranten vor der Rabea-al-Adawija-Moschee sagte der Nachrichtenagentur dpa, bis zum Mittag seien alleine dort 22 Demonstranten getötet worden.
Ein Großteil der Demonstranten hatte sich in Sicherheit gebracht, als am Morgen ein Großaufgebot der Polizei mit Tränengas-Granaten anrückte. Andere Mursi-Anhänger leisteten jedoch Widerstand. Ein dpa-Reporter sah, wie Demonstranten im Viertel Nasr-City auf Polizisten feuerten, die daraufhin das Feuer erwiderten und mit gepanzerten Fahrzeugen weiter in das Zeltlager vordrangen.
Die Kundgebung auf dem Al-Nadha-Platz in Giza löste sich nach drei Stunden auf. In Nasr-City leistete ein harter Kern am Nachmittag weiter Widerstand. In der Hafenstadt Alexandria stürmten Islamisten das provisorische Gouverneursgebäude. Zu Ausschreitungen kam es auch in Assiut, Suez, Beni Sueif, Al-Scharkija und Al-Minia.
"Nachdem das ägyptische Innenministerium entschieden hat, die Sit-Ins der Muslimbrüder in Kairo aufzulösen, haben Unterstützer der Muslimbrüder in Oberägypten einen Rachefeldzug gegen koptische Christen begonnen", schrieb die Organisation Maspero Jugendunion im sozialen Netzwerk "Facebook". Anwohner in der Stadt Al-Arisch auf dem Sinai beobachteten, wie Demonstranten die historische Mar-Guirgis-Kirche zerstörten.
Der Vorsitzende der salafistischen Partei des Lichts, Junis Machiun, erklärte: "Wir fordern die Führung dieses Landes auf, die Gewalt gegen die Protestierenden und friedlichen Demonstranten einzustellen." Die radikale Partei des Lichts und die gemäßigte Islamistenpartei Starkes Ägypten sind die einzigen unter den größeren Islamistenparteien, die sich nach Mursis Sturz nicht mit den Muslimbrüdern solidarisiert hatten.
Ägyptischer Präsident ruft Notstand aus
Der ägyptische Übergangspräsident Adli Mansur hat nach schweren Unruhen am Mittwoch für einen Monat den Notstand ausgerufen. Das berichteten die staatlichen Medien. Der Präsident erklärte, die Armee solle der Polizei helfen, gegen Sabotageakte vorzugehen.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat die Gewalt bei der Räumung von Protestlagern in Kairo "auf das Schärfste" verurteilt. Er habe erst vor kurzem seinen Aufruf an alle Seiten zur Mäßigung bekräftigt, hieß es in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung. Er bedauere es, "dass die ägyptischen Stellen stattdessen Gewalt gegen als Reaktion auf andauernde Demonstrationen gewählt haben".
Die große Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung wolle, dass sich ihr Land friedlich in Richtung Demokratie und Wohlstand bewege, betonte Ban Ki Moon weiter. Er rief alle Ägypter auf, angesichts der Eskalation der Gewalt ihre Bemühungen darauf zu konzentrieren, eine echte Aussöhnung im Land zu fördern, die alle einschließe. Es sei nötig, dass unterschiedliche Meinung respektvoll und friedlich ausgedrückt werden könnten. "Bedauerlicherweise ist das heute nicht geschehen."
Europäische Union verurteilt Gewalt in Ägypten
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat die Eskalation der Gewalt in Ägypten scharf kritisiert. "Ich verurteile den Verlust von Menschenleben, die Verletzungen und die Zerstörungen in Kairo und anderen Orten in Ägypten", heißt es in einer am Mittwoch in Brüssel veröffentlichten Erklärung Ashtons. Sie sei zutiefst besorgt über die derzeitige Lage in Ägypten: "Konfrontation und Gewalt sind kein Weg, um wichtige politische Fragen zu klären."
Ashton forderte die Sicherheitskräfte auf, "gegenüber allen ägyptischen Bürgern äußerste Zurückhaltung zu üben, um weitere Provokationen und eine Eskalation zu verhindern". Ägyptens demokratische Zukunft werde von einem Dialog aller politischer Kräfte und nationaler Aussöhnung abhängen. Dazu gehöre auch eine zivile Regierung. Die Rechte aller Bürger auf Meinungsäußerung und friedlichen Protest müssten gewahrt bleiben.
Der britische Außenminister William Hague hat den Einsatz von Gewalt bei der Räumung von Protestlagern in Ägypten verurteilt. Hague zeigte sich am Mittwoch wegen der Unruhen im Land tief besorgt. Er sei enttäuscht, dass kein Kompromiss gefunden worden sei, sagte Hague nach Angaben des Außenministeriums in London. Er rief die ägyptischen Sicherheitskräfte zur Zurückhaltung auf. Alle sollten nun daran arbeiten, die Gefahr neuer Gewalt einzudämmen, sagte Hague.
Die westlichen Regierungen, aber auch die Türkei zeigten sich am Mittwoch tief besorgt über die Gewalt bei der Räumung von Protestlagern der Islamisten in Kairo. Die islamisch-konservative Führung der Türkei verurteilte den Einsatz der Sicherheitskräfte gegen Islamisten als "völlig inakzeptabel". Der Einsatz öffne die Tür zu einem sehr gefährlich Weg, zitierte die Nachrichtenagentur Anadolu den Staatspräsidenten Abdullah Gül.
Der Iran hat das "Blutbad" in Ägypten scharf verurteilt und vor einem Bürgerkrieg gewarnt. "Wir rufen die Sicherheitskräfte zur Mäßigung auf, denn diese Entwicklung könnte gefährliche Konsequenzen haben und sogar zu einem Bürgerkrieg führen", erklärte das iranische Außenministerium am Mittwoch. Anwendung von Gewalt könne auch gravierende und unumkehrbare Auswirkungen auf den weiteren demokratischen Prozess in Ägypten haben, so das Außenministerium in Teheran..
Belgien schließt Botschaft in Kairo
Aus Sicherheitsmaßnahmen hat Belgien am Mittwoch die Botschaft in der ägyptischen Hauptstadt Kairo geschlossen. Das meldete ein Sprecher des Außenministeriums. Belgier, die sich zur Zeit in dem Land in gefährlichen Gebieten aufhielten, sollten sich dringend überlegen, ob ihre Anwesenheit dort zwingend sei.
Belgische Reiseveranstalter halten bislang ihre Angebote nach Ägypten aufrecht. Die Reisewarnungen des Außenministeriums seien respektiert worden und den Kunden stünden nur noch Reisen ans Rote Meer oder zum Golf von Akaba zur Auswahl. Das sagte eine Sprecher der Reiseveranstalter-Vereinigung. Der Reiseveranstalter Thomas Cook erklärte, er habe außerdem aus Sicherheitsgründen alle Flüge nach Luxor und alle Nilkreuzfahrten aus dem Programm genommen. Die Sicherheit in den Touristenhochburgen sei gewährleistet, hieß es.
belga/dpa/cd/jp - Bild: Mahmoud Khaled (afp)