Unter den Lawinen aus Wasser, Schlamm und Geröll, die sich vor zweieinhalb Wochen durch die Täler im Norden Indiens wälzten, starben Hunderte Menschen. Ganze Dörfer wurden weggeschwemmt, fast zweitausend Straßen und Brücken zerstört. Unter den Lawinen begraben wurde auch der Glaube vieler Inder an einen funktionierenden Staat, an Hilfe in der Not, an zupackende Politiker.
Denn als einer der schlimmsten Monsune der vergangenen Jahrzehnte den Bundesstaat Uttarakhand traf, überraschte er mehr als 100.000 Pilger und Touristen in den Ausläufern des Himalaya. Die heftigen Regenfälle kamen zwei Wochen zu früh, mitten in der Zeit der sommerlichen Pilger-Ströme zu heiligen Schreinen in den Bergen. Die Behörden waren entweder von den Meteorologen nicht gewarnt worden, oder sie unternahmen auf deren Hinweis nichts - die Schuldzuweisungen gingen hin und her.
Jedenfalls war niemand vorbereitet. Und die zu Zehntausenden gestrandeten und von der Außenwelt abgeschnittenen Menschen blieben mit ihrem Elend allein. "Wir hungerten drei Tage lang, überlebten dank Keksen und rationiertem Wasser in unserer Gruppe", sagte die 70-Jährige Malti Gupta aus Bhopal, die mit anderen Senioren auf einer Pilgerreise war. "Nirgendwo war ein Amtsträger zu sehen oder ein Team der Katastrophenhilfe, das uns zu Hilfe kam."
Lokale Verantwortliche verschwunden
Viele der lokalen Verantwortlichen verschwanden ohne ein Wort ins Nirgendwo. Erst als das Militär nach dem Zusammenbruch der Behördenapparates mit 10.000 Soldaten einsprang, begannen groß angelegte Rettungsarbeiten. Währenddessen beschwerten sich Angehörige und Freunde über mangelnde Informationen und fehlende Ansprechpartner. Zahlreiche Politiker versuchten, für sich Vorteile aus der Katastrophe zu schlagen - ein Landesminister etwa charterte Flugzeuge und Luxusbusse, um ausschließlich Pilger aus seinem Bundesland in Sicherheit zu bringen.
Alle Pilger sind mittlerweile ausgeflogen, aber das Organisationschaos dauert an. Bis heute können sich die Behörden nicht auf die Zahl der Toten einigen. Während ein Parlamentssprecher von Uttarakhand sagte, es könne weit über 10.000 Tote geben, nannte der Regierungschef das Staates, Vijay Bahuguna, 880 Tote. Ein ähnliches Durcheinander gibt es bei der Erfassung der Vermissten: Das Katastrophenmanagement des Staates zählte 3000, während die gleiche Behörde der Zentralregierung 7800 bis 11.000 angibt.
Und Tausende Dorfbewohner sind nach wie vor von der Außenwelt abgeschnitten, viele Siedlungen konnten bislang nicht einmal per Helikopter erreicht werden. Die Bewohner des Dorfes Narayangar etwa haben sich in ein Klassenzimmer einer Schule geflüchtet, wie der Nachrichtensender NDTV zeigte. "Wir brauchen dringend Essen und Kleidung. Wie sollen wir Überleben?", fragte eine verzweifelte Frau in die Kamera.
Zweifel an indischem Staat
Indische Medien äußerten Zweifel, ob der Staat mit solchen Katastrophen umgehen kann. Warum war eine Gegend, in der regelmäßig viel Monsun-Regen fällt, nicht besser vorbereitet? Das Problem kehre jedes Jahr wieder, und fast regelmäßig gebe es Überschwemmungen mit vielen Toten, heißt es in "The Asian Age".
Umweltschützer wie Sunita Narain nannten das Unglück ein von Menschen gemachtes Desaster, da Häuser ohne Genehmigungen direkt an den Flüssen standen, riesige Waldflächen gerodet und Umweltnormen beim Bau von Staudämmen verletzt worden seien. Der Profit, den Restaurants, Hotels und Läden entlang der Pilger-Wege bringen, sei vielen wichtiger erschienen als der Schutz des fragilen Ökosystems.
Uttarakhands Minister für Katastrophenhilfe hingegen bezeichnete die Fluten als "Himalaya-Tsunami", gegen den die Behörden machtlos seien. "Was kann die Regierung tun? Wir können kein natürliches Unheil verhindern." Die Zeitung "Indian Express" bemerkte dazu, dass Indien wie kaum ein anderes Land immer wieder von Erdbeben, Tsunamis und Fluten heimgesucht werde. Und trotzdem habe die nationale Katastrophenbehörde "weder Informationen noch Kontrolle über Rettungsmaßnahmen".
Siddhartha Kumar und Doreen Fiedler, dpa/mh - Bild: Sajjad Hussain (afp)