Die landesweiten Massenproteste in Ägypten haben sich dramatisch zugespitzt. Bis Montag wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums mindestens 16 Menschen getötet, mehr als 780 weitere wurden verletzt. Demonstranten stürmten die Zentrale der regierenden Muslimbruderschaft in Kairo. Die Protestbewegung "Tamarud" (Rebellion) stellte Präsident Mohammed Mursi ein Ultimatum: Er soll bis 17:00 Uhr (Ortszeit) am Dienstag abtreten - andernfalls drohen die Regierungsgegner mit weiteren Unruhen. Nach Angaben aus Regierungskreisen haben fünf Minister ihren Rücktritt eingereicht.
Anders als bei den Massenprotesten im Arabischen Frühling 2011 gegen Mursis Vorgänger, den Langzeitmachthaber Husni Mubarak, sind es diesmal die Islamisten, die den Zorn der Demonstranten auf sich ziehen. Die Protestbewegung wirft Mursi vor, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht zu lösen, und befürchtet eine schleichende Islamisierung. Mursis Anhänger sehen die Krise als ideologischen Machtkampf - für oder gegen den Islam.
Acht Menschen kamen den Ministeriumsangaben zufolge bei den Auseinandersetzungen und Schießereien vor der Zentrale der Muslimbruderschaft in der Hauptstadt ums Leben, drei weitere im oberägyptischen Assiut. Jeweils einen Toten gab es zudem in der Stadt Bani Sueif, in Kafr el-Scheich, in Fayum und in Alexandria sowie vor dem Präsidentenpalast in Kairo.
Der Nachrichtensender Al-Arabija zeigte am Morgen Fernsehbilder von dem Hauptquartier der Islamisten. Dort waren die Fensterscheiben eingeschlagen, Bürostühle lagen auf der Straße, an manchen Stellen brannte es. Zuvor hatte es dort Zusammenstöße zwischen Islamisten und Gegnern Mursis gegeben.
Ähnliche Szenen im Arabischen Frühling 2011
Am Sonntag, dem Jahrestag von Mursis Amtsantritt, hatten Hunderttausende im ganzen Land für und gegen die Regierung demonstriert. Die Protestbewegung hat angekündigt, ihren Widerstand so lange fortzusetzen, bis der Islamist Mursi abtritt. Auf dem zentralen Kairoer Tahrir-Platz sowie vor dem Präsidentenpalast campierten am Montag oppositionelle Demonstranten.
Ähnliche Szenen hatten sich 2011 bei den Protesten gegen den damaligen Machthaber Mubarak abgespielt. Nach 18 Tagen wurde er schließlich gestürzt. In der aktuellen Situation rechnen Beobachter allerdings damit, dass die Demonstrationen zu Beginn des Fastenmonats Ramadan in gut einer Woche abflauen werden.
Die Massenproteste in Kairo, Alexandria und vielen anderen Städten markierten den Höhepunkt einer wochenlangen Kampagne. Seit Anfang Mai haben die Initiatoren der Aktion "Tamarud" nach eigenen Angaben mehr als 22 Millionen Unterschriften gegen Mursi gesammelt.
Gewalt in Oberägypten
Auch in Oberägypten kam es am Sonntag zu Gewalt: In der südlichen Provinz Assiut eröffneten nach Angaben der Sicherheitsbehörden Unbekannte auf einem Motorrad das Feuer auf Aktivisten. Dabei seien drei Menschen getötet und mindestens acht verletzt worden. Ein Demonstrant starb laut lokalen Medienberichten in der südlichen Stadt Bani Sueif bei Zusammenstößen. In Fayum sei ein 18-Jähriger ums Leben gekommen.
Für die Muslimbrüder, als deren Kandidat Mursi gewählt worden war, kommen Neuwahlen nicht infrage. Ein Sprecher des Staatsoberhaupts rief die Protestbewegung bei einer Pressekonferenz zum Dialog auf. Der Berater der Muslimbruderschaft, Gehad al-Haddad, sagte, die Opposition müsse akzeptieren, dass Mursi durch faire und freie Wahlen ins Amt gekommen sei. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa betonte er, die Anhänger Mursis würden nichts tun, solange die Demonstrationen friedlich blieben. Allerdings fügte er hinzu: "Die Mauern des Präsidentenpalasts sind eine rote Linie."
Viele Ägypter gingen aus Angst vor gewalttätigen Ausschreitungen weder zu den Protesten noch zur Arbeit. Tausende Ausländer hatten das Land bereits am Samstag verlassen. In den vergangenen Tagen hatte es mehrfach gewaltsame Zusammenstöße zwischen Anhängern und Gegnern der Islamisten gegeben. Dabei starben sieben Menschen - unter ihnen ein US-Bürger.
Fünf ägyptische Minister treten nach Massenprotesten zurück
Nach Massenprotesten gegen den ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi haben nach Angaben aus Regierungskreisen fünf Minister ihren Rücktritt eingereicht. Es handele sich um die Ressortchefs für Tourismus, Umwelt, Kommunikation, öffentliche Versorgungsunternehmen und Parlamentsangelegenheiten, hieß es aus den Kreisen. Premierminister Hescham Kandil habe ein Treffen mit den Ministern einberufen, um ihre Entscheidung zu diskutieren.
Die staatliche Nachrichtenagentur Mena nannte als Grund das Verständnis der Minister für die Proteste in der Bevölkerung.
dpa/mh/sh - Bild: Khaled Desouki (afp)