Die islamistische Führung in Ägypten wird vor den für dieses Wochenende geplanten Massenprotesten zunehmend nervös. In der Nacht zum Donnerstag versuchte Präsident Mohammed Mursi vergebens, seinen Gegnern mit einer fast dreistündigen Rede den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er bezeichnete seine Widersacher als "Feinde der Revolution", die durch ihre ständigen Proteste das Wirtschaftswachstum gefährdeten.
Noch während er in Kairo vor Anhängern sprach, die ihn mit Applaus und Jubel überhäuften, kam es in drei nördlichen Provinzen zu Straßenkämpfen zwischen Anhängern und Kritikern der Islamisten. Ein Mensch starb. Das Gesundheitsministerium zählte 298 Verletzte.
Protestgruppen und Oppositionelle wollen am Sonntag - dem ersten Jahrestag von Mursis Vereidigung als Präsident - gegen die Islamisten demonstrieren. Sie fordern Mursis Rücktritt und Neuwahlen. Durch Mursis Rede fühlen sie sich in ihrem Vorhaben bestärkt.
Gleiches Vokabular wie Ex-Präsident Mubarak
Die islamisch-bürgerliche Partei Starkes Ägypten erklärte, Mursi habe in seiner Rede genau das gleiche Vokabular benutzt wie Ex-Präsident Husni Mubarak. Wie sein Vorgänger, so sei auch Mursi "der Realität entrückt". Die Jugendbewegung 6. April kritisierte, dass er zwar die vielen Proteste der letzten Monate erwähnt habe, "aber ohne Lösungswege für die Probleme der Menschen anzubieten".
Andere Beobachter kritisierten die Inszenierung der Rede, die immer wieder von "spontanen Begeisterungsrufen einfacher Bürger" unterbrochen wurde. Diese standen hinten in dem Saal, in dem fast ausschließlich männliche Mitglieder islamistischer Parteien saßen.
In der Provinz Al-Scharkija ging ein Gebäude der Partei der Muslimbrüder in der Nacht in Flammen auf. Das berichteten lokale Medien unter Berufung auf Augenzeugen. In der Stadt Al-Mansura wurde während einer Demonstration ein Journalist verschleppt. Mohammed Haisa Basid wurde nach Angaben lokaler Medien später bewusstlos aufgefunden. Kollegen behaupteten, Islamisten hätten ihn mit Elektroschocks gefoltert.
Die Sicherheitskräfte rechnen in den kommenden Tagen mit weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen. Aus Sicherheitskreisen verlautete, die Muslimbruderschaft habe in Erwartung möglicher Straßenkämpfe Mitglieder der Bewegung in drei Vierteln von Kairo zusammengezogen.
Forderung nach Neuwahlen abgelehnt
Der Präsident erteilte der Forderung nach Neuwahlen in seiner Rede eine klare Absage. Er stellte die Protestbewegung als Zusammenschluss von Saboteuren dar. Funktionären des Regimes von Ex-Präsident Husni Mubarak warf er vor, sie bezahlten Schlägertrupps, um die Polizei anzugreifen und Chaos zu stiften.
Mursi verkündete, Minister und Gouverneure sollten in den kommenden Tagen "alle Beamten entlassen, die für die Krisen verantwortlich sind, unter denen die Bürger leiden müssen". Beobachter werteten dies als Vorwand, noch mehr Muslimbrüder in verantwortliche Positionen zu bringen.
Die Bewegung "Rebellion" ("Tamarud") hat in den vergangenen Monaten nach eigenen Angaben mehr als 20 Millionen Unterschriften von Bürgern gesammelt, die Neuwahlen fordern. Mehrere Oppositionsparteien haben angekündigt, sie wollten so lange demonstrieren, bis Mursi zum Rücktritt gezwungen wird, so wie Mubarak im Februar 2011.
Viele Ägypter sind unzufrieden mit der Regierung, weil Arbeitslosigkeit und Kriminalität zugenommen haben. Außerdem mangelt es an Benzin, die Lebensmittelpreise steigen, die Stromversorgung ist lückenhaft. Mursi führt dies auf die Hinterlassenschaft des alten Regimes und Störversuche der Opposition zurück.
Anne-Beatrice Clasmann, dpa/cd - Bild: afp