Im syrischen Bürgerkrieg sind nach Erkenntnissen von UN-Ermittlern wahrscheinlich schon mindestens viermal chemische Waffen eingesetzt worden. Es gebe "hinreichende Gründe", dies zu glauben, erklärte die vom UN-Menschenrechtsrat berufene Syrien-Kommission am Dienstag in ihrem jüngsten Lagebericht für den UN-Menschenrechtsrat in Genf. Die Kommission schränkte jedoch ein: "Es war auf der Basis des vorliegenden Beweismaterials nicht möglich, die konkrete chemische Substanz, das Abschuss-System oder Täter festzustellen."
Der Einsatz von Chemiewaffen ist laut internationalen Abkommen ein unter Strafe stehendes Kriegsverbrechen. Die EU äußerte große Sorge und forderte weitere Ermittlungen.
Die Experten beklagen in ihrem Bericht weiterhin, dass der im März 2011 ausgebrochene Bürgerkrieg ein "neues Niveau an Brutalität" erreicht hat. Dabei werden sowohl den Regierungstruppen und den mit ihnen verbündeten Milizen als auch der bewaffneten Opposition schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet.
Vorgehen von Regierungstruppen
Die meisten entsprechenden Hinweise auf den Einsatz von Chemiewaffen beträfen das Vorgehen von Regierungstruppen, heißt es im jüngsten Lagebericht der Expertengruppe unter Leitung des brasilianischen Diplomaten Paulo Pinheiro. Man könne zwar nicht ausschließen, dass inzwischen auch Rebellen Zugang zu Chemiewaffen hätten, darunter Nervengas. Es gebe aber keine "zwingenden Beweise", dass diese Gruppen darüber sowie über die erforderlichen Abschuss-Systeme verfügten.
Die Ermittler, die nicht nach Syrien einreisen durften, stützen sich maßgeblich auf Zeugenbefragungen im oder vom Ausland aus. Den Angaben zufolge sollen bei vier Angriffen in den Provinzen Aleppo, Idlib und Damaskus am 19. März sowie am 13. und 19. April "in eingeschränktem Maße giftige Chemikalien" benutzt worden sein.
Weitere Untersuchungen seien erforderlich. Dafür müsse die von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon berufene Expertengruppe mit dem Chemiewaffenexperten Åke Sellström in Syrien Nachforschungen anstellen dürfen.
US-Präsident Barack Obama hatte den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad bereits vor Monaten gewarnt, dass mit dem Einsatz von Chemiewaffen eine "rote Linie" überschritten werde. Sobald ein definitiver Beweis dafür vorliege, würden die USA mit ihren Alliierten über Konsequenzen beraten.
Die Europäische Union rief die syrische Regierung auf, UN-Inspektoren zur Klärung des Verdachts ungehinderten Zugang zu ermöglichen. "Wir sind ernsthaft besorgt über die Möglichkeit des Einsatzes chemischer Waffen in Syrien", erklärte am Dienstag die EU-Botschafterin bei den UN in Genf, Mariangela Zappia. "Ein jedweder derartiger Einsatz wäre eine schwere Verletzung internationalen Rechts."
Einsatz chemischer Waffen Kriegsverbrechen
Die Syrien-Kommission verwies darauf, dass der Einsatz chemischer Waffen unter anderem nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) als Kriegsverbrechen anzusehen ist. Zudem sei die Verwendung solcher Waffen bereits durch das 1925 in Kraft getretene Genfer Protokoll untersagt, das auch von Syrien ratifiziert worden sei.
In ihrem Bericht für den Zeitraum Mitte Januar bis Mitte Mai listete die Kommission etliche Aussagen, Indizien und Beweise für eine immer grausamere Kriegführung auf. Vor allem Regimetruppen, aber auch Rebellen würden verstärkt zum Mittel der Belagerung von Orten greifen, deren Bevölkerung dann von jeglicher Versorgung abgeschnitten werde. Nach internationalem Recht sei es "eindeutig verboten, Aushungerung als Methode der Kriegführung zu benutzen".
Insgesamt attackiert dem Bericht zufolge das Assad-Regime stärker und systematischer Zivilisten, die mutmaßlich die Gegenseite unterstützen. Die Rebellen würde Kriegsverbrechen in einem geringeren Ausmaß und mit weniger Intensität begehen. Doch auch sie würden das Leben von Zivilisten gefährden - unter anderem durch deren Missbrauch als "Schutzschilde" vor militärischen Einrichtungen. Beide Seiten würden immer wieder morden, foltern, vergewaltigen und Menschen willkürlich hinrichten.
Putin: Noch keine S-300 an Syrien geliefert
Russland hat Kremlchef Wladimir Putin zufolge noch keine S-300-Flugabwehrsysteme an seinen engen Partner Syrien geliefert. Der Vertrag zum Export der Kampftechnik sei zwar vor mehreren Jahren geschlossen worden, aber "noch nicht realisiert", sagte Putin am Dienstag beim EU-Russland-Gipfel in Jekaterinburg. Internationale Kritik wegen möglicher Lieferungen wies er erneut zurück. Russland verletze damit nicht das internationale Recht, da es kein Waffenembargo gegen Syrien gebe, sagte der Präsident. "Wir wollen das Gleichgewicht in der Region nicht durcheinanderbringen."
Putin warnte mit Nachdruck vor einer Militärintervention in dem Konflikt. Jeder Versuch einer Einmischung von außen sei zum Scheitern verurteilt und verschlimmere die Lage nur.
Die Gegner des syrischen Machthabers Baschar al-Assad forderte der Präsident zur Einigkeit auf. Der Opposition fehle es im Vorfeld der geplanten Syrien-Friedenskonferenz an "gutem Willen", meinte Putin.
Russland sei enttäuscht über das Auslaufen des EU-Waffenembargos gegen Syrien, sagte der Kremlchef beim Treffen mit EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.
dpa/okr - Bild: Fabrice Coffrini (afp)