Damit eins von vornherein klar ist: Hier geht es nicht darum, die Entscheidung von Angelina Jolie zu beurteilen. Das wäre eine Anmaßung. Auch wenn das Privatleben von Weltstars wie Jolie quasi jeden Tag in den Medien breitgetreten wird, Privatleben ist und bleibt in letzter Konsequenz doch Privatleben, selbst wenn es in Teilen öffentlich ist, im vorliegenden Fall sogar von der Betroffenen selbst öffentlich gemacht wurde.
Was natürlich nicht heißt, dass eine Privatsache nicht eine öffentliche Debatte anschieben darf. Gerade Krebs bewegt sich nach wie vor in einer gewissen gesellschaftlichen Tabuzone. Weil aber Angelina Jolie nicht irgendwer ist, sondern ein Sexsymbol, eine Frau, die mehrmals von der Männerwelt den Titel "Sexiest woman alive" verliehen bekam, wird wohl erstmals über das Thema Mastektomie in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. So mancher hatte diesen Fachbegriff bis dato noch nie gehört.
Endlich also eine breite Debatte über ein Thema, das im Ansatz zahllose Frauen betrifft, man kann das Angelina Jolie mitunter gar als Verdienst anrechnen. Beispielhaft ist ihre Entscheidung aber nur bedingt bzw. gar nicht.
Nur bedingt für betroffene Frauen. Es darf jedenfalls nicht der trügerische Eindruck entstehen, alles stünde in den Genen. Wer nicht genau hinschaut, der kann zu dem Fazit gelangen, dass jeder Krebs, jede Krankheit immer die Folge einer Prädisposition ist, dass man im Umkehrschluss also die Geißel Krebs ausmerzen kann, bevor sie überhaupt entsteht. Der Fall Jolie könnte Derartiges suggerieren, wovor Fachleute aller Couleur aber eindringlich warnen. Die Ursachen von Krebs sind vielfältig, oft nicht erforscht.
Angelina Jolie gehört zu den wenigen Menschen, die eine wirkliche und als solche auch identifizierte genetische Vorbelastung mitbringen, ein Gendefekt, der unter den Kürzeln BRCA-1 oder BRCA-2 bekannt ist. Deswegen war bei ihr die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, tatsächlich außerordentlich hoch. Ein solches, fast schon vorprogrammiertes Risiko, das ist aber - nach dem derzeitigen Stand der Medizin - mit Sicherheit eine Ausnahme.
Wobei man sich die Frage stellen kann, ob das nicht besser so ist. Die Entscheidung der Angelia Jolie, so privat sie auch sein mag, hat nämlich auch deswegen so viel Aufsehen erregt, weil sie so erschrocken macht. Dass sich ein gesunder Mensch Körperteile amputieren lässt, weil es eine wenn auch gegebene statistische Gefahr gibt, an Krebs zu erkranken, das wirft in jedem Fall einen neuen Blick auf den medizinischen Fortschritt.
Bislang gab es im Grunde nur zwei mögliche Zustände: Entweder man ist gesund, oder man ist krank. Jetzt gibt es einen dritten Status: "Mehr oder weniger wahrscheinlich in absehbarer Zeit krank". Ein Fegefeuer also, ein Vorzimmer zur Hölle oder eher ein "Warteraum", wobei nicht sicher ist, ob man jemals an die Reihe kommt.
Die heutigen Diagnose-Methoden konfrontieren die Betroffenen mit Fragen einer neuen Art. Auch ohne Gentests werden Probleme inzwischen erkannt, bevor sie im eigentlichen Sinne problematisch sind. Wie geht man damit um, wenn man gesagt bekommt, dass sich aus einem bestimmten Befund in x Prozent der Fälle diese oder jene Krankheit entwickeln kann? Wie dick ist der Faden, der das Damokles-Schwert hält? Wo hört Prävention auf und wo beginnt Panikmache? Und wie soll der Patient das beurteilen können? Denn er ist es, der am Ende die Entscheidung treffen muss, wie denn der nächste Schritt aussehen soll.
Neue, revolutionäre Diagnose-Methoden, Gentests ... Segen und Fluch zugleich. Der eine -unter anderem auch Angelina Jolie- will die möglichst absolute Kontrolle über seinen Körper, der andere neigt eher dazu, den Lauf der Dinge den Parzen zu überlassen, also den griechischen Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden anknüpfen, weiterspinnen und eben irgendwann durchschneiden. Fluch oder Segen? Diese Frage kann am Ende nur jeder für sich selbst beantworten.
Der Punkt ist: Genau diese Sphäre darf auch nicht verlassen werden. Der Fall Angelina Jolie öffnet nämlich auch noch zumindest einen Spaltweit die Tür noch zu einem anderen Raum, den keine Gesellschaft hoffentlich je betreten wird, eine Welt, in der das Private dem angeblichen Kollektivinteresse gänzlich untergeordnet wird: Individualisierung der Gesundheitsfürsorge.
Die Zutaten dafür sind längst zusammengemischt. Wo hört das Private auf, in einer materialistisch-neoliberalistisch geprägten Welt? In einer Welt, in der man nicht mehr von "Personal" spricht, sondern von Humanressourcen. Ab wann wird aus einer persönlichen Entscheidung ein Verhalten von gesellschaftlicher Tragweite? Diese Fragen stehen doch längst im Raum: Sollte man nicht Raucher oder fettleibige Menschen, die allein durch ihr Risikoverhalten ihre Gesundheit schädigen, aus der Krankenversicherung ausschließen? Oder zumindest finanziell sanktionieren? Vorschläge dieser Art sind längst im Begriff, sich einen Weg in den Mainstream zu bahnen.
Der Mensch als Kostenfaktor, nicht mehr nur in einem Unternehmen, sondern zunehmend auch für die Sozialversicherung. Zählt man nun eins und eins zusammen, dann ergibt sich daraus die bange Frage, ob eine Entscheidung wie die von Angelina Jolie nicht möglicherweise bald eben keine Privatsache mehr ist. Ob man am Ende nicht gar noch zur Verantwortung gezogen wird, wenn man krank wird, wenn es doch quasi in den Genen stand. Ob nicht am Ende gar Gen-Tests zur Grundbedingung für eine Einstellung werden, also einen Arbeitsplatz.
So abwegig, wie das klingt, ist es leider nicht. Vor rund 20 Jahren wurde die EU-Kommission verurteilt, weil in einem Rekrutierungsverfahren ein Kandidat abgewiesen wurde wegen eines positiven HIV-Tests.
Die Science-Fiction-Phantasie eines Menschen mit einer Computer-Schnittstelle fürs Diagnose-Programm, sie rückt angesichts der spektakulären Fortschritte in der Medizin in den Bereich des Denkbaren. Das gilt aber leider auch für die Schreckens-Vision eines George Orwell, in der ein Individuum kein Individuum mehr ist. Bei allen Gen-Tests dieser Welt muss ein Befund jedoch Grundvoraussetzung sein: "Diagnose Mensch".