Nach der dramatischen Festnahme des Terrorverdächtigen von Boston forschen die Ermittler mit Hochdruck nach den Motiven der mutmaßlichen Bombenleger. "Wir hoffen, dass der Verdächtige überlebt, denn wir haben eine Million Fragen", sagte der Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick.
In einem Großeinsatz, der die gesamte Stadt in Atem hielt, hatte die Polizei den 19-jährigen Dschochar Zarnajew am Freitagabend (Ortszeit) im Vorort Watertown aufgespürt und überwältigt. Er liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Sein Bruder und mutmaßlicher Komplize Tamerlan (26) war zuvor auf der Flucht von der Polizei getötet worden.
Die Ermittler gehen davon aus, dass die Brüder allein gehandelt haben. Über die Hintergründe wird noch gerätselt. Das FBI hatte Tamerlan allerdings bereits 2011 als "radikalen Islamisten" im Visier - ohne Hinweise auf terroristische Aktivitäten zu finden. Bei dem Anschlag auf den Boston-Marathon waren am Montag drei Menschen getötet und 180 verletzt worden. Auf der Flucht sollen die Brüder einen Wachmann am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erschossen haben.
Zustand ernst
Der Zustand des 19-jährigen Dschochar war am Sonntag weiter ernst. Er habe eine Verletzung am Hals erlitten und sei noch nicht in der Lage zu sprechen, berichtete der Nachrichtensender CNN unter Berufung auf einen Bundesbeamten. Er wird im streng bewachten Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston behandelt.
Nach dem Tod seines Bruders in einem Feuergefecht mit der Polizei hatte er sich verletzt in einem Garten in einem abgedeckten Boot versteckt. Dort entdeckte ihn der Hausbesitzer unter der Plane und wählte den Notruf. Wann gegen Dschochar Zarnajew Anklage erhoben wird, war am Sonntag noch unklar.
Die Polizei gab inzwischen Details zur Festnahme bekannt. Der 19-Jährige habe nach langer Verfolgung letztlich aufgegeben. "Schließlich tat er, was wir ihm befohlen hatten, stand auf und hob sein Hemd hoch", sagte der Polizeichef von Watertown, Edward Deveau, in einem CNN-Interview. Deveau sprach von "20 Minuten Verhandlungen" mit dem Schwerverletzten. Er räumte allerdings ein, dass Zarnajew dabei "nicht viel gesagt" habe. Er habe aber noch um sich geschossen.
In Watertown strömten die Menschen auf die Straße und jubelten, als die Festnahme bekanntwurde. Die Bostoner Polizei twitterte um 20:58 Uhr Ortszeit (2:58 Uhr MESZ): "Die Jagd ist aus. Die Fahndung ist vorüber. Der Terror ist vorbei. Und Gerechtigkeit hat gesiegt. Verdächtiger in Haft." Für die Großfahndung war am Freitag der gesamte Großraum lahmgelegt worden, es gab eine Ausgangssperre.
US-Präsident Barack Obama lobte in einer kurzen Rede im Weißen Haus die Arbeit der Sicherheitsbehörden und kündigte lückenlose Aufklärung an.
Überprüfung 2011
Wie das FBI nach der Festnahme mitteilte, hatte die Bundespolizei den älteren Bruder, Tamerlan, 2011 auf Wunsch einer ausländischen Regierung überprüft. Nach einem CNN-Bericht bestätigte die Behörde inzwischen, dass es sich dabei um Russland gehandelt habe. Das Ersuchen habe sich auf Informationen gestützt, wonach Tamerlan dem radikalen Islam anhänge und sich von 2010 an drastisch verändert habe. 2012 sei er länger in Russland gewesen. Zuletzt habe Tamerlan Vorbereitungen getroffen, die USA zu verlassen, um sich nicht näher beschriebenen Untergrundgruppen anzuschließen, hieß es. Das FBI sprach damals auch mit ihm selbst und Familienangehörigen.
Die Brüder sind nach bisherigen Erkenntnissen tschetschenischer Herkunft, lebten aber mit ihren Familie bereits seit 2002 in den USA. Beide Söhne sind laut FBI in Kirgistan geboren. Dschochar sei inzwischen in den USA eingebürgert, Tamerlan habe eine ständige Aufenthaltserlaubnis gehabt. Bei der Ermittlungen wollen Russland und die USA eng zusammenarbeiten. Bislang allerdings habe Moskau noch keine wertvollen Hinweise liefern können, meldete die Agentur Interfax am Samstag unter Berufung auf Sicherheitskreise.
USA streiten über Rechte des mutmaßlichen Boston-Bombers
Vor dem ersten Verhör des mutmaßlichen Boston-Attentäters streiten Juristen in den USA über seinen Rechtsstatus. Die Anwälte-Organisation "The American Civil Liberties Union" (ACLU) protestierte am Sonntag in einer Erklärung gegen die vorläufige Entscheidung des Justizministeriums, den 19-jährigen Dschochar Zarnajew zunächst zu verhören, ohne ihm sein Recht zu schweigen und auf einen Anwalt zu verlesen und gewähren.
Diese sogenannten "Miranda-Rechte" müssen nach einem Gesetzeszusatz jedem Angeklagten in den USA zugesprochen werden. Infolge des vereitelten Bombenanschlags auf dem New Yorker Times Square hatte die Regierung von US-Präsident Barack Obama vor zwei Jahren jedoch eine Ausnahmeregelung geschaffen. Die "Miranda-Rechte" können seither ausgesetzt werden, wenn unmittelbare terroristische Gefahr besteht und der Festgenommene als "feindlicher Kämpfer" identifiziert ist.
"Jeder Angeklagte hat das Recht auf die "Miranda-Regeln"", erklärte die ACLU. "Eine Verwehrung dieser Rechte ist unamerikanisch und macht es schwer, faire Urteile zu fällen." Konservative Politiker wie der Senator John McCain forderten hingegen, den Verhafteten als "feindlichen Kämpfer" zu behandeln. "Das Letzte, was wir tun wollen, ist, dem Boston-Verdächtigen seine "Miranda-Rechte" zu verlesen und ihm zu sagen, dass er schweigen soll", schrieb der republikanische Senator Lindsey Graham im Kurznachrichtendienst Twitter.
Peer Meinert und Anja Semmelroch, dpa/jp/okr - Bild: Timothy A. Clary (afp)