Die «Mona Lisa», das «Abendmahl»-Fresko, die «Dame mit dem Hermelin» - Leonardo da Vincis Gemälde sind auch fast 500 Jahre nach seinem Tod noch vielen Menschen im Kopf. Wie tief das Renaissance-Genie selber bereits in ebendiesen hineinblicken konnte, ist hingegen weniger bekannt.
Dieser Ansicht war auch die britische Königin Elizabeth II.. Und so zeigt sie im Jahr ihres 60. Thronjubiläums in der «Queen's Gallery» am Buckingham Palast in London ihre umfassende Kollektion der anatomischen Zeichnungen da Vincis. Die weisen den Universalgelehrten als einen der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit aus.
«Die Leute denken immer, Leonardo war ein Künstler, der nebenbei ein paar anatomische Zeichnungen gemacht hat», sagte Kurator Martin Clayton bei einer ersten Führung durch die Schau, die offiziell am 4. Mai öffnet und bis zum 7. Oktober geht. «Ein Maler mit einem bizarren Hobby.» Dabei sei es gerade umgekehrt: Vor allem in den letzten Jahrzehnten seines Lebens habe da Vinci «ab und zu» mal ein Bild gemalt. «Er war vor allem ein Wissenschaftler», meinte Clayton.
Was geht im Körper des Menschen vor?
Fast 90 Zeichnungen werden gezeigt, nach Angaben der Royal Collection so viele wie noch nie in einer Ausstellung. Einige davon sind zum ersten Mal für die Öffentlichkeit zu sehen. Gleich am Anfang wird erklärt, warum da Vincis Zeichnungen so einzigartig sind: Zu seiner Zeit war die menschliche Anatomie kaum erforscht. Man berief sich auf überlieferte Texte aus der Antike. Leichen wurden selten seziert. Aus heutiger Sicht obskure Annahmen über die Zusammenhänge im Körper herrschten vor.
Zur Anatomie kam da Vinci ursprünglich über die Kunst. Er habe ein Buch schreiben wollen, in dem alles enthalten sein sollte, was ein Maler wissen müsse - vor allem, um einen Menschen in seiner Komplexität darzustellen, erklärte Clayton. «Er untersuchte nicht nur Knochen und Muskeln, sondern auch das Nervensystem.» Auch das Gehirn nahm er sich vor, um herauszufinden, wie Gesichtsausdrücke entstehen.
Am Anfang, in der Phase um 1480, sezierte da Vinci vor allem Tiere. Später bekam er häufiger Zugang zu menschlichen Leichen und hielt alles in Zeichnungen und Texten fest. Die Plastikmodelle von heute, die zum Teil neben den Zeichnungen stehen, zeigen, dass er dabei nach revolutionären Methoden vorging. «Leonardo hat sich alle einzelnen Schichten angesehen», erklärte Gus McGrouther, Professor für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie an der Universität Manchester. «Seine Technik, etwas zu zeigen, kopieren wir heute.»
Einige der Zeichnungen sind regelrecht anrührend und wirken wie kleine Kunstwerke in sich, die Bilder von Babys im Mutterleib etwa. Nervensysteme erinnern an verästelte Bäume, ein menschlicher Schädel hebt sich durch Schattierungen fast wie dreidimensional aus dem Papier.
Wie kamen die Zeichnungen nach England?
Doch warum wissen bis heute nur wenige um die Leistungen des Italieners für die Anatomie? Und wie kommen die wissenschaftlichen Kunstwerke in den Besitz der Queen? Da Vinci wollte seine Zeichnungen irgendwann in einem Anatomie-Buch veröffentlichen, heißt es von der Royal Collection zur Erklärung dieser Mysterien. Bis zu seinem Tod 1519 aber war das nicht geschehen. Das ungeordnete Material und die unverwerteten Notizen gingen an seinen Assistenten Francesco Melzi. Dessen Sohn verkaufte den Großteil an den Bildhauer Pompeo Leoni, der sie in verschiedenen großen Alben zusammenfügte.
In einem davon stellte er so gut wie alle anatomischen Skizzen zusammen - und im Jahr 1630 taucht es im Besitz des Grafen von Arundel, Thomas Howard, in England auf. Es blieb vermutlich in England und gelangte wahrscheinlich um 1690 als Geschenk oder Ankauf in die Königlichen Sammlungen. Erst im 18. Jahrhundert wurden die Zeichnungen langsam wiederentdeckt. Es dauerte bis zum 20. Jahrhundert, ehe eine breitere Öffentlichkeit sie kennenlernte.
Insgesamt ist die Royal Collection im Besitz von 600 Zeichnungen da Vincis, darunter auch solche zu späteren Bildern und anderen Themen. Einige davon hatten von Herbst 2011 bis zum vergangenen Februar großes Aufsehen erregt - als Teil einer Schau über Leonardo als Maler in der National Gallery in London. Tausende Menschen hatten oft lange in der Kälte angestanden, um die Gemälde und Zeichnungen aus seiner Feder zu sehen.
Die Ausstellung der Queen soll nun das «Gleichgewicht in seinem Status als Künstler» wiederherstellen, sagte Clayton: «Ich hoffe, Leonardo rückt damit nicht nur an die Stelle des wichtigsten Künstlers der Renaissance, sondern auch an die des wichtigsten Wissenschaftlers.»
dpa - Bild: TeleNews (ansa)