Gewaltexzesse statt Waffenruhe: Anstelle eines Rückzugs der syrischen Armee aus den Städten prägen heftige Kämpfe und neue Militäroperationen das Bild. Oppositionelle meldeten am Montag landesweit Gefechte. Besonders an der Grenze zur Türkei eskalierte die Gewalt. China rief die Regierung von Präsident Baschar al-Assad auf, die Vereinbarungen zur Feuerpause einzuhalten und ihre Truppen wie verabredet ab Dienstagmorgen zurückziehen. Auch Russland "erinnerte" an den versprochenen Abzug. Das Assad-Regime hatte die mit den Vereinten Nationen getroffene Vereinbarung zuvor aber wieder infrage gestellt.
Der Sprecher des Pekinger Außenministeriums, Liu Weimin, sagte am Montag vor Journalisten, die Regierung in Damaskus und alle Beteiligten sollten ihre Verpflichtungen einhalten und mit dem UN-Sonderbeauftragten Kofi Annan kooperieren, um die Spannungen abzubauen und auf eine politische Lösung hinzuarbeiten.
Russlands Vize-Außenminister Gennadi Gatilow "erinnerte" nach russischen Agenturberichten daran, dass die Soldaten am 10. April aus den Städten abgezogen werden müssten und beide Seiten die Gewalt bis zum 12. April einzustellen hätten. "Danach werden wir sehen, in welche Richtung sich die Situation entwickelt". China und Russland haben im UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen ihren Verbündeten Assad stets verhindert.
Truppenabzug am Dienstagmorgen geplant
Ursprünglich sollte der Truppenabzug am Dienstagmorgen ab 6:00 Uhr Ortszeit (5:00 Uhr MESZ) beginnen. Dem Vorschlag Annans hatten sowohl das Assad-Regime als auch die Opposition zugestimmt. Am Sonntag forderte das syrische Außenministerium aber schriftliche Garantien des UN-Sondergesandten. Demnach sollten auch die als "bewaffnete Terror-Gruppen" bezeichneten Oppositionskräfte die Gewalt in jeder Form beenden. Es sei eine falsche Interpretation, dass Syrien bestätigt habe, seine Truppen am 10. April aus Städten und deren Umgebung abzuziehen, hieß es weiter.
Ein Sprecher der oppositionellen Freien Syrischen Armee erklärte daraufhin, nur der internationalen Gemeinschaft, nicht aber der Regierung in Damaskus würden Garantien gegeben. Oberst Riad al-Asaad sagte dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira: "Das ist eine kriminelle Bande."
Am Montag verschärfte sich die Lage vor allem an der türkisch-syrischen Grenze. Wie türkische Fernsehsender berichteten, wurden erstmals mehrere Menschen auf türkischem Staatsgebiet von Schüssen verletzt, die von syrischen Truppen über die Grenze hinweg abgefeuert wurden. Zudem seien auf syrischer Seite mindestens zwei Menschen getötet und insgesamt elf weitere verletzt worden.
Auf der syrischen Seite der Grenze war es zu Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen der oppositionellen Freien Syrischen Armee gekommen. Bewohner eines in der türkischen Provinz Kilis unmittelbar an der Grenze gelegenen Flüchtlingslagers hätten den Rebellen am Morgen zur Hilfe kommen wollen, als diese unter Feuer gerieten. Unter den Verletzten sei auch ein türkischer Staatsbürger, der auf türkischem Gebiet getroffen worden sei, teilten die Behörden mit.
Human Rights Watch wirft Syriens Regime Massenhinrichtungen vor
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft dem Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad vor, bei den jüngsten Militäroffensiven mehr als 100 Menschen in den Protesthochburgen hingerichtet zu haben. In einem am Montag in New York veröffentlichten 25-seitigen Bericht schreibt die Gruppe, dass es sich bei den Getöteten um Zivilisten sowie um verletzte oder festgenommene Rebellen gehandelt habe.
Dokumentiert werden mehr als ein Dutzend solcher Hinrichtungen mit mindestens 101 Opfern seit Ende 2011 durch Regierungstruppen und regimetreue Milizen in den Unruheprovinzen Idlib und Homs. Viele davon hätten sich im März 2012 ereignet, heißt es. Mindestens 85 Opfer seien Menschen gewesen, die nicht an den Kämpfen beteiligt waren, darunter auch Frauen und Kinder.
"Bei ihrem verzweifelten Versuch, den Aufstand niederzuschlagen, haben syrische Truppen Menschen kaltblütig hingerichtet, Zivilisten wie oppositionelle Kämpfer", sagte Ole Solvang, einer der Verfasser des Berichts. Human Rights Watch rief den Weltsicherheitsrat auf, im Zuge der Friedensmission des UN-Sondergesandten Kofi Annan auch solche Verbrechen zu dokumentieren.
Videos von angeblichen Massenhinrichtungen
Aktivisten stellten am Wochenende Videos von angeblichen Massenhinrichtungen ins Internet. Auf den Bildern sind unter anderem 13 Leichen zu sehen, die vor einer Schule im Stadtteil Deir Balba in der Rebellenhochburg Homs liegen. Die Männer sind gefesselt, ihre Augen verbunden. Alles deutet darauf hin, dass sie hingerichtet worden sind. Die Einschüsse sind an der Mauer deutlich zu sehen. Wegen der Medienblockade sind Meldungen aus Syrien von unabhängiger Seite nur schwer zu überprüfen.
Annan besucht Flüchtlingslager an syrischer Grenze
Der internationale Sondergesandte Kofi Annan wird am Dienstag im türkischen Grenzgebiet zu Syrien Flüchtlingslager besuchen. Annan wolle sich über die Lage der syrischen Flüchtlinge informieren, bevor er weiter zu Gesprächen über den Konflikt nach Teheran reise, berichtete die türkische Nachrichtenagentur Anadolu am Montag unter Berufung auf türkische Diplomaten.
Die Türkei hatte in der vergangenen Woche auf eine Zuspitzung der humanitären Krise im Grenzgebiet zu Syrien hingewiesen. Wegen der größer werdenden Zahl von Flüchtlingen und der syrischen Militäreinsätze bat Außenminister Ahmet Davutoglu UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, Vertreter zu entsenden.
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte beim Treffen der Kontaktgruppe der Freunde Syriens in Istanbul eine "moralische Intervention" gefordert, um das Blutvergießen in dem Nachbarland zu beenden. Öffentlich nannte er keine Details zu seinen Plänen. Erdogan warnte aber, die internationale Gemeinschaft dürfe nicht zu spät reagieren.
dpa/est - Archivbild: sana/epa