Russisch als Amtssprache in einem Teil der Europäischen Union? Was noch im Kalten Krieg nach Science-Fiction klang, könnte im EU-Land Lettland nun Wirklichkeit werden.
Denn an diesem Samstag entscheidet das baltische Land in einem Referendum über die Annahme von Russisch als zweiter Staatssprache.
Weit hergeholt ist das Vorhaben nicht: Rund ein Drittel der 2,3 Millionen Einwohner in dem Land von der Größe Bayerns ist russischer Herkunft, in der Hauptstadt Riga ist es sogar fast jeder Zweite.
Initiator ist die Bürgerbewegung «Muttersprache». «Es geht nicht nur um Sprache, sondern auch um Ehre», erklärt Organisator Wladimir Linderman. «Wir möchten nicht nur Bürger zweiter Klasse sein. Wir sind der Meinung, dass wir dieselben Rechte haben wie Letten.» Unterstützung kommt aus Moskau. «Die Menschen wollen angehört und respektiert werden. Sie wollen ihre Kinder in ihrer Sprache erziehen», verteidigt Russlands Außenminister Sergej Lawrow den Plan.
"Russische Besatzung"
Einst siedelte der Kreml ganz gezielt Russen in Lettland an. Damals gab das Russische im Alltag den Ton an. Doch nach der Unabhängigkeit 1991 wollten die Letten die von vielen als Besatzung empfundene Sowjetzeit abschütteln - und machten das bis dahin vernachlässigte Lettisch zur alleinigen Staatssprache.
Nun muss eine Sprachprüfung bestehen, wer Lette werden will. Deshalb gibt es rund 320.000 «Nichtbürger», etwa 15 Prozent der Bevölkerung, die in der Regel aus Russland stammen. Sie besitzen zwar ein Aufenthaltsrecht, haben aber deutlich weniger Bürgerrechte.
Die Fronten sind verhärtet: Der russischsprachigen Bevölkerung automatisch die Staatsbürgerschaft zu gewähren oder Russisch als Amtssprache zuzulassen, lehnen die meisten Politiker strikt ab. «Falls Lettisch nicht mehr die einzige Amtssprache wäre, dann wäre Lettland überhaupt ein anderer Staat», sagt Parlamentspräsidentin Solvita Aboltina. Staatspräsident Andris Berzins kündigte gar seinen Rücktritt an, falls Russisch zweite Amtssprache werden sollte.
Ethnische Diskriminierung
Doch es geht nicht nur um Sprache: Das pro-russische Harmoniezentrum sieht das Referendum auch als Protesterklärung gegen ethnische Diskriminierung. Die Partei ging aus der jüngsten Parlamentswahl als stärkste Kraft hervor, wurde bei der Regierungsbildung aber außen vor gelassen. «Bislang werden nur einseitig die Interessen der ethnischen Wählergruppen bedient», sagt der Politologe Deniss Hanovs der Deutschen Presse-Agentur. Er warnt, dass der Konflikt um die Volksabstimmung zu steigenden Spannungen innerhalb der Gesellschaft führen könne.
Auch Nils Muiznieks bezeichnet die Diskussionen um das Referendum als «politische Scharmützel». In der Integrationspolitik bedarf es nach Ansicht des neu gewählten Kommissars für Menschenrechte des Europarates vor allem eines besseren Dialogs. «Die kategorische Weigerung, mit lettischen Russen in ihrer Sprache zu kommunizieren, ist ein Fehler», sagt er im lettischen Fernsehen.
Um die Verfassung zu ändern, muss sich mindestens die Hälfte der etwa 1,5 Millionen Stimmberechtigten an dem Referendum beteiligen. Bei den letzten Wahlen erhielten die Parteien der russischen Minderheit aber nur rund 270.000 Stimmen. In Umfragen votierte ein Viertel der Letten für Russisch als zweite Amtssprache - 59 Prozent sprachen sich dagegen aus.
Das Parlament lehnte die Gesetzesvorlage nahezu einstimmig ab. Die Abgeordneten des Harmoniezentrums enthielten sich. Ihr Kompromissvorschlag, Russisch zumindest im Umgang mit kommunalen Verwaltungsbehörden zuzulassen, wurde abgelehnt. Die Entscheidung hat nun das Volk. Aber ohne die «Nichtbürger» - sie haben kein Wahlrecht.
dpa - Bild: Ilmar Znotins (afp)