Immerhin ist es wohl so, dass die EU sich zumindest wieder ein bisschen Zeit erkauft hat. Doch, wenn man einmal genauer hinschaut, dann stellt man fest: Der Preis dafür könnte in gewissen Bereichen zu hoch sein.
Der Weltuntergang ist also noch einmal verschoben. Das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis des Brüsseler Doppelgipfels vom Sonntag und vom Mittwoch. Der Euro ist gerettet - das ist die gute Neuigkeit, allerdings die einzige.
Ganze Reihe von Wermutstropfen
Erstens, die Frage: Ist das Rettungspaket groß genug? Naja, viele Fachleute sind da skeptisch. Da reichen zwei Zahlen: Der Fonds kann Risiken in Höhe von 1.000 Milliarden Euro abdecken - allein Italien sitzt aber schon auf einem Schuldenberg von 1.900 Milliarden, also: fast doppelt so viel...
Zweitens: Hat man da wirklich die Banken in die Pflicht genommen? Vordergründig mag es so aussehen: Sie müssen Griechenland seine Schulden zur Hälfte erlassen. Da geht es zwar um 100 Milliarden Euro, aber ehrlich gesagt: Das ist billig! Einmal abgesehen davon, dass die Banken für die Krise letztlich schuld sind: Wenn man jetzt auch noch weiter zocken darf, wie bisher, wenn es dafür wohl vorerst keine Finanztransaktionssteuer geben wird, dann kann man doch behaupten, dass die Banken da noch mit einem blauen Auge davon gekommen sind.
Drittens: Wie kam das Paket zustande? Nun, da gibt es kein Vertun: die Gipfelbeschlüsse sind den EU-Staaten aus Berlin vordiktiert worden, quasi Wort für Wort.
Deutschland größter Geldgeber
Die einen mögen sagen: Endlich ist Deutschland seiner Führungsrolle mal gerecht geworden. Und sowieso: Deutschland ist nunmal der größte Geldgeber: Fast die Hälfte des bisherigen Rettungsschirms von 440 Milliarden Euro wurde von Deutschland gestellt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Deutschland gehört, so paradox das klingen mag, zu den Gewinnern der Krise.
Nachdem sich Anleger massiv in deutsche Bundesanleihen geflüchtet haben, fielen die Zinsen in den Keller: Deutschland musste zwischenzeitlich um die zwei Prozent Zinsen zahlen, da wo etwa Italien derzeit über sechs Prozent zahlt. Das heißt also: Die deutsche Staatsschuld ist im Augenblick viel günstiger als die der anderen. Und hier geht es um Milliarden. Hinzu kommt: Als erwiesenermaßen größte Volkswirtschaft Europas hat Deutschland auch noch viel mehr vom Euro profitiert als andere.
Das soll kein Vorwurf sein, sondern erlaubt lediglich die Feststellung: Der Euro ist für Deutschland mit Sicherheit keine finanzielle Einbahnstraße, weit gefehlt. Deswegen ist auch der deutsche Katzenjammer immer noch schwer nachvollziehbar, wenn es da immer wieder hieß: "Kein deutsches Geld für Pleitegriechen".
Und genau deshalb ist der neuerliche deutsche Führungsanspruch denn auch den anderen schwer zu verkaufen. Gut! Es gilt nunmal: Wer das Geld hat, hat die Macht. Aber dieser Eindruck, eben dass es nur noch die Deutschen sind, und vielleicht noch die Franzosen, die in der EU den Ton angeben, dieser Eindruck ist auf Dauer sehr kontraproduktiv.
Denn: So unpopulär Brüssel und seine EU-Regelwerke auch sein mögen: Man sollte nicht glauben, dass es dem gemeinen Italiener, Spanier, Belgier oder Esten lieber wäre, aus Berlin und/oder Paris regiert zu werden.
Europa braucht "mehr Europa", keine Frage
Und das ist den Bürgern, eben diesen Europäern, ohnehin schon schwer zu verkaufen. Geschweige denn, wenn "mehr Europa" darauf hinausläuft, dass dann wohl nur noch Deutschland und Frankreich sagen, wo es lang geht. Wenn schon Europa, der EU, also dem Brüsseler Bürokratie-Frankenstein in den Augen der Menschen die Legitimation fehlt, wie mag es sich denn anfühlen, wenn der Eindruck entsteht, dass man sparen muss, weil Frau Merkel das so will.
Zumal man darüber streiten kann, ob Berlin und Paris immer so genau wissen, wo die Reise hingehen soll. Beim EU-Gipfel wurde schließlich auch entschieden, dass die EU an Schwellenländer, allen voran an China herantritt, und dabei um Unterstützung für die Euro-Rettung wirbt. Also, wenn auch das auf den Ideen aus Paris und Berlin gewachsen ist, na dann "Gute Nacht".
Mal ehrlich: Welch ein Armutszeugnis, wenn Europa am Ende in China anklopft, um seine internen Probleme zu lösen! Hinzu kommt: schön naiv, wer glaubt, dass die Chinesen aus reiner Nächstenliebe in die Bresche springen. "Wer das Geld hat, hat die Macht", das gilt mittelfristig vielleicht nicht mehr so sehr für Berlin, sondern für Peking.
Und warum das Ganze? Eben, weil die Europäer, und eben vor allem die Deutschen, die Krise nicht von vornherein entschlossen genug angegangen sind, und deswegen dazu verdammt waren, immer hinterherzulaufen -und damit auch noch die Glaubwürdigkeit des ganzen Kontinents beschädigt wurde - weil man eben den vollen Preis für die Eurorettung nicht zahlen wollte. Auch jetzt noch nicht.
Stattdessen hebelt man einen halbleeren Rettungsfonds künstlich auf 1.000 Milliarden. Das Gebilde baut zudem auf der Bonität Frankreichs auf, was auch nur solange gut geht, wie Frankreich seine Bestnote, sein Trippel-A behält.
Der Euro ist vorerst gerettet
Nicht mehr und nicht weniger. Am grundsätzlichen Zaudern, am unterschwelligen Protektionismus der selbsternannten Führungsstaaten hat sich erstmal nichts geändert. Wer in den Gipfelbeschlüssen das Fundament für ein neues Europa, eine integriertere EU sehen will, mit Verlaub, aber der träumt. Noch jedenfalls. Mit jeder Krise rückt Europa zwar näher zusammen, aber nur notgedrungen, mit äußerst zaghaften Schritten, nur so weit, wie es unbedingt sein muss.
Deswegen bedarf es wohl noch vieler Krisen dieser Tragweite, bis die EU-Staaten einsehen, dass Minimalaufwand eben nicht reicht. Deswegen ist es, Börsenhoch hin oder her, wohl nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Existenzkrise kommt. Und deswegen besteht auch nach wie vor die Gefahr, dass eine dieser vorhersehbaren Krisen am Ende Europa doch noch den Garaus macht.
Europa braucht nicht deutsche oder französische Lenker, Europa braucht Europäer. Europa braucht mehr Europa. Allerdings: Man darf es niemandem aufzwingen. Mehr Europa, das können nur die Europäer selbst verlangen. Nur die Bürger können ihre Vertreter zu Europäern machen. Das Problem ist, dass eben diese Europäer ihrem Europa längst misstrauen. Teils vielleicht zu recht, teils aber auch, weil Europa konsequent zum Sündenbock gestempelt wurde. Deswegen wäre es schonmal ein Anfang, wenn die EU-Regierungen nicht nur dann Europa in den Himmel loben, wenn die Hütte brennt - wie etwa Frau Merkel am Mittwoch im deutschen Bundestag.
Denn, eins muss man vor Augen haben: Die alte Welt bekommt man nicht zurück - nur gemeinsam können die Europäer in einer globalisierten Welt bestehen. Zynisch gesagt: Entweder, wir bekommen mehr Europa, oder... China!