Die islamistische Ennahdha-Partei hat mit riesigem Vorsprung die ersten freien Wahlen in Tunesien gewonnen. Die umstrittene Bewegung um Spitzenpolitiker Rachid Ghannouchi bekommt nach dem vorläufigen Endergebnis 90 von 217 Sitzen in der verfassungsgebenden Versammlung. Unter dem im Januar gestürzten Langzeitherrscher Zine el Abidine Ben Ali galt die Ennahdha (Wiedergeburt) noch als extremistisch und war verboten.
Überschattet wurde die Bekanntgabe des Wahlergebnisses von gewalttätigen Ausschreitungen in der ehemaligen Revolutionshochburg Sidi Bouzid.
Hunderte Menschen lieferten sich nach Augenzeugenberichten Straßenschlachten mit der Polizei und der Armee, nachdem die Wahlkommission sechs Kandidatenlisten des reichen Geschäftsmannes und Besitzers eines TV-Senders Hechmi Haamdi für ungültig erklärt hatte.
Mehrere Gebäude, darunter das örtliche Parteibüro der Ennahdha sowie das Gebäude der Regionalverwaltung, sollen in Brand gesetzt worden sein. Die Polizei setzte Tränengas ein. Über mögliche Verletzte gab es zunächst keine Angaben. Hintergrund der Listenausschlüsse waren nach Angaben der obersten Wahlaufsichtsinstanz vor allem Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung der Partei Al Aridha. Mit 19 Sitzen in der Versammlung gilt die nationalistische Bewegung aber dennoch als die große Überraschung der Wahlen.
"Ziel: Regierung der nationalen Einheit"
Zweitstärkste Partei nach der Ennahdha wurde die Mitte-Links-Partei "Kongress für die Republik" (CPR) unter Führung des Medizinprofessors Moncef Marzouki mit 30 Sitzen, teilte die Wahlkommission am Donnerstagabend in Tunis mit. Auf Platz drei landete die sozialdemokratische Partei Ettakatol mit 21 Sitzen. Sie führt nach eigenen Angaben bereits Gespräche mit der Ennahdha über die Bildung einer neuen Übergangsregierung. Parteichef Mustapha Ben Jaâfar gilt als möglicher neuer Übergangspräsident.
Ein Ennahdha-Sprecher sagte, man werde Kontakt zu allen anderen politischen Parteien suchen. Ziel sei eine Regierung der nationalen Einheit. Für den Posten des Regierungschefs brachte sich bereits der Generalsekretär der Ennahdha-Bewegung, Hammadi Jébali, ins Spiel.
Liberale Tunesier fürchten im Falle einer islamistischen Regierung einen für sie dramatischen Wandel des Landes - bis hin zu Kopftuchzwang und Alkoholverbot. Konkrete Hinweise auf drohende Einschnitte der Bürger- und Freiheitsrechte gibt es bislang allerdings nicht. Im Wahlkampf verkaufte sich die Ennahdha-Bewegung als moderne Partei nach dem Vorbild der türkischen AKP. Die für die arabische Welt äußert ausgeprägten Frauenrechte sollen nicht angetastet werden.
EU gratuliert Islamisten in Tunesien
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat der islamistischen Bewegung Ennahda zum Sieg bei den ersten freien Wahlen in Tunesien gratuliert. "Wir loben die Kandidaten und Parteien, die am demokratischen Prozess teilgenommen haben. Wir gratulieren auch der Ennahda-Partei, die den höchsten Prozentsatz von Stimmen bekommen hat", heißt es in einer Erklärung Ashtons vom Freitag in Brüssel.
Die EU sehe einer "engen Zusammenarbeit" mit der neuen Verfassunggebenden Versammlung" entgegen. Die Union fühle sich auch weiterhin zu "politischer und finanzieller Unterstützung der tunesischen Gesellschaft" verpflichtet. Diese wolle Demokratie, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Würde.
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