Noch vor Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses haben die tunesischen Islamisten mit möglichen Partnern Koalitionsverhandlungen begonnen. Nach Angaben eines Sprechers der umstrittenen Ennahdha-Bewegung sollen Gespräche mit allen anderen politischen Parteien, aber auch mit unabhängigen Kandidaten geführt werden. Die sozialdemokratische Partei Ettakatol von Mustapha Ben Jaafar bestätigte Verhandlungen mit dem voraussichtlichen Wahlsieger. Auf Wunsch der Islamisten soll eine neue Übergangsregierung der nationalen Einheit gebildet werden.
Für den Posten des Regierungschefs brachte sich der Generalsekretär der islamistischen Ennahdha-Bewegung, Hammadi Jébali, selbst ins Spiel. In allen Demokratien der Welt würde der Parteichef dazu gekürt, sagte er der staatlichen Nachrichtenagentur TAP. Die Partei des konservativen Politikers Rachid Ghannouchi hatte sich nach den bisher vorliegenden Teilergebnissen in den vergangenen Tagen als stärkste politische Kraft gefeiert. Das vorläufige Endergebnis der Wahlen wird nicht vor Donnerstagmorgen erwartet. Die oberste Wahlinstanz veröffentlichte am Mittwoch zunächst nur neue Resultate aus einzelnen Stimmbezirken.
Ghannouchi selbst versuchte am Mittwoch in einem Interview mit dem Privatsender "Express FM" die Angst vor einer radikalen Beschneidung der demokratischen Freiheiten nehmen. Seine Ennahdha-Bewegung ist im Land umstritten. Liberale Tunesier unterstellen ihr extremistische Tendenzen und fürchten um Bürger- und Freiheitsrechte. In ihrem Wahlprogramm gibt es jedoch keine Hinweise auf eine solche Gefahr.
Ghannouchi betonte zugleich mit Blick auf Israel, dass Tunesien unter seiner Regierung keine Beziehungen zu diesem von ihm als kolonialistisch beschriebenen Staat aufnehmen werde. Die bisher vorgelegten Teilergebnisse lassen auf einen haushohen Wahlsieg seiner Ennahdha-Bewegung schließen. Sie war unter dem im Januar gestürzten Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali verboten. Ghannouchi lebte mehr als zwei Jahrzehnte im Londoner Exil.
Proteste gegen angebliche Wählfälschungen
In der zentraltunesischen Stadt Menzel Bouzaiane kam es in der Nacht zum Mittwoch zu Protesten gegen angebliche Wählfälschungen. Die Vorwürfe erregten besondere Aufmerksamkeit, weil dort während der Revolution im Winter die ersten Schüsse fielen. Zunächst gab es aber keine Angaben über neue Gewalt in der Stadt.
Neun Monate nach dem Sturz des Langzeitpräsidenten Ben Ali waren am vergangenen Sonntag rund sieben Millionen Tunesier aufgerufen gewesen, die 217 Mitglieder einer verfassungsgebenden Versammlung zu wählen. Diese sollen eine neue Übergangsregierung bestimmen und in den nächsten Monaten ein neues Grundgesetz formulieren. In spätestens zwölf Monaten soll es dann Präsidenten- und Parlamentswahlen geben.
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