Die Diskussionen um einen «Verfall der Moral» in Großbritannien als Ursache der jüngsten Krawalle sind nach Ansicht des früheren Premierministers Tony Blair falsch und schädigen das Ansehen des Landes im Ausland.
Es sei kontraproduktiv, darüber zu jammern, Großbritannien habe seine moralische Richtung verloren, sagte Blair der Sonntagszeitung «The Observer». Das deprimiere die Menschen und zerstöre den Ruf des Landes.
Der derzeitige Premierminister David Cameron von den konservativen Tories hatte nach den Unruhen von einem «moralischen Kollaps» der Gesellschaft gesprochen. Politiker verschiedener Richtungen äußerten sich ähnlich. Die Gewalt war am vorvergangenen Wochenende in London ausgebrochen und hatte von dort auf andere Städte übergegriffen. Fünf Menschen starben, es entstand Millionenschaden.
Cameron kündigte in der Zeitung «Sunday Express» erneut an, er werde gegen die «zerstörerische Kultur» vorgehen, die zu den derzeitigen Problemen geführt habe. Die «tiefen Probleme der Gesellschaft» seien unter anderem fehlendes Verantwortungsbewusstsein und die Meinung, persönlichen Rechte stünden über allem anderen.
1300 mutmaßliche Randalierer vor Gericht
Nach einer Flut harter Urteile gegen mutmaßliche Randalierer, Plünderer und Helfershelfer erwarten führende Juristen in den kommenden Wochen eine Lawine von Berufungsverhandlungen. Am Freitag war das Urteil gegen eine Frau in zweiter Instanz als «im Grundsatz falsch» kassiert worden. Die Mutter zweier Kinder hatte nach den Ausschreitungen der vergangenen Wochen ein geplündertes Kleidungsstück von einer Nachbarin angenommen und war deshalb zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Zur erfolgreichen Berufung der Frau sagte der Jurist Paul Mendelle: «Das ist der Beginn des Zurückruderns von den drakonischeren Urteilen.»
Die Urteile gegen Randalierer der vergangenen Tage waren im Schnitt um 25 Prozent härter als vergleichbare Urteile in der Vergangenheit, schrieb die «Times» am Samstag unter Berufung auf eine entsprechende Untersuchung von 1000 Fällen. Bis dato waren 1300 mutmaßliche Randalierer vor Gericht erschienen. 65 Prozent wurden zu Haftstrafen verurteilt oder bis zum Hauptverfahren in U-Haft genommen.
Die Zahl der bislang gezählten Straftaten während der Krawalle stieg bis zum Sonntag allein in London auf 3000, wie Scotland Yard mitteilte. Darunter waren rund 1100 Fälle von Diebstahl in Geschäften und Häusern, in denen niemand wohnt. Zwei Mordermittlungen seien im Gange. Die «Sunday Times» berichtete, dass bis zu 30.000 Menschen in London an den Plünderungen und Unruhen beteiligt gewesen sein könnten.
dpa/km - Bild: Jonathan Brady