"Vor wenigen Augenblicken hat die israelische Armee die Operation 'Rising Lion' gestartet", sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der Nacht in einer Fernsehansprache. Übersetzen könnte man das sinngemäß mit 'Der Löwe erwacht'. Es ist der israelische Militärschlag, den man seit Wochen befürchtete.
Netanjahu begründete den Angriff mit den Fortschritten, die der Iran bei der Entwicklung seines geheimen Atomprogramms gemacht habe. In den letzten Monaten habe man Schritte beobachtet, die man bislang nicht gesehen habe: Iran habe damit begonnen, seit angereichertes Uran zu Waffen zu verarbeiten. Das bedeute, dass der Iran innerhalb von einem Jahr, vielleicht auch nur wenigen Monaten, dazu in der Lage sei, eine Atombombe zu bauen, sagte Netanjahu.
Experten reagieren skeptisch auf derlei Aussagen. Man müsse zwischen zwei Aspekten unterscheiden, sagte in der RTBF Jonathan Piron, Iran-Experte und Dozent für internationale Beziehungen an der Helmo-Hochschule in Lüttich: "Auf der einen Seite weisen verschiedene Geheimdienstberichte tatsächlich darauf hin, dass der Iran inzwischen über die technischen Möglichkeiten verfügt, um eine Atombombe zu bauen. Andere Informationen besagen aber, dass der politische Wille noch nicht da ist, eine Bombe zu bauen."
Insgesamt zeichnet Netanjahu aber kein neues Bedrohungsszenario, sind sich Fachleute einig. Schon 1996 habe er vor einer angeblichen iranischen Bombe gewarnt, die innerhalb von wenigen Jahren einsatzbereit sein könne. Vor diesem Hintergrund sehe es im Moment eher so aus, als wolle die Regierung Netanjahu sozusagen "die Gunst der Stunde" nutzen, sagt Jonathan Piron: "Offensichtlich glaubt man in Tel Aviv, dass man jetzt oder nie Schritte unternehmen kann, um den Nahen Osten grundlegend neu zu ordnen. Schließlich kann man davon ausgehen, dass die verbündete Trump-Regierung das stillschweigend dulden wird."
Nach ersten Informationen hat die israelische Luftwaffe den Iran da getroffen, wo es vermeintlich weh tut: Nicht nur Atomanlagen wurden angegriffen, auch Schlüsselpersonen wurden buchstäblich liquidiert: Führende Köpfe des iranischen Militärs, darunter der Kommandeur der mächtigen Revolutionsgarden und der Generalstabschef der Streitkräfte. Außerdem wurden anscheinend auch Wissenschaftler getötet, die an der Entwicklung von Nuklearwaffen arbeiteten.
Experten: Atomprogramm nicht gestoppt
Nach Ansicht von Fachleuten ist es aber dennoch unwahrscheinlich, dass man dem Regime in Teheran damit einen wirklich entscheidenden Schlag versetzt habe. In der VRT sagte Tom Sauer, Professor für internationale Politik an der Uni Antwerpen: "Die Iraner haben längst ihre Vorkehrungen getroffen und ihre strategisch wichtigen Anlagen unter die Erde verfrachtet, so tief, dass sie zumindest für die israelische Armee unerreichbar sind. Diese Bombenangriffe lösen also wohl letztlich kein Problem."
Der Lütticher Kollege Jonathan Piron sieht das ähnlich. Das Regime in Teheran habe dafür gesorgt, dass das iranische Atomprogramm auf vielen Schultern und Standorten ruht. Es sei über das ganze Land verteilt und gedoppelt. Insofern habe Israel - wenn überhaupt - vielleicht ein paar Monate gewonnen. Gestoppt habe man das Programm jedenfalls nicht.
"Vielleicht sogar im Gegenteil", sagt Professor Tom Sauer von der Uni Antwerpen. Israel hatte seinerzeit auch die Atomanlagen des Iraks unter Diktator Saddam Hussein angegriffen. Das Resultat war, dass das Regime dann "erst recht" Druck gemacht hat, um das Programm zu vollenden. "Das kann jetzt auch im Iran passieren: Dass sich jetzt die konservativen Kräfte durchsetzen und auch tatsächlich der politische Wille da ist, eine Bombe zu bauen."
Die Welt hält derweil den Atem an. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA hat den israelischen Präsidenten Herzog über "schwere Schäden" an der iranischen Atomanlage Natans informiert.
Die neuerliche Eskalation wird sich auch im Portemonnaie bemerkbar machen. An der führenden Energiebörse in den Niederlanden stieg der Gaspreis am Freitagmorgen um knapp sechs Prozent. Öl der Nordseesorte Brent, die auch in Belgien den Preis an der Zapfsäule bestimmt, kletterte in der Nacht um bis zu 13 Prozent auf den höchsten Stand seit Januar. Die Börsen gingen weltweit auf Talfahrt.
Roger Pint