Fast 300 Punkte hat die israelische Sängerin Yuval Raphael von den Zuschauern bekommen. Damit konnte Israel sein Zwischenergebnis nach den Jury-Punkten mal eben fast versechsfachen. Denn nach der ersten Punkterunde, bei der die verschiedenen Jurys die Songs bewerten, stand Israel noch mit mageren 60 Zählern im unteren Mittelfeld. Die Punkte der Zuschauer katapultierten die Sängerin dann aber auf den Spitzenplatz, auf dem sie sich halten kann, bis sie quasi auf der Ziellinie von Österreich noch überholt wird.
60 Punkte von der Jury, fast 300 von den Zuschauern… Da gibt es jetzt verschiedene mögliche Lesarten. So wurde schnell in Sozialen Netzwerken der Vorwurf laut, dass Israel quasi "von den Jurys" ausgebremst wurde und auf jeden Fall der "Sieger der Herzen" sei. Das kann man so sehen, muss man aber nicht. Denn man kann auch das Jury-Votum zumindest als einen Gradmesser betrachten und sich entsprechend dann die Frage stellen, wo denn all diese Zuschauer-Stimmen für Israel herkamen.
Rundfunk und Regierung in Israel haben große Werbekampagne organisiert
Und diese Frage ist berechtigt, sagte in der VRT Jonathan Hendrickx, Professor für Medienwissenschaften an der Universität Kopenhagen in Dänemark und Kenner des Eurovision Song Contest. Wie schon im vergangenen Jahr hätten der israelische Rundfunk und auch die israelische Regierung in (sozialen) Medien eine großangelegte Kampagne organisiert, um für Stimmen für Israel zu werben, und das unabhängig vom Lied und vom Interpreten.
Dieser Aufruf ist offensichtlich nicht auf taube Ohren gestoßen, sagt Hendrickx. Begünstigt werde das dann noch durch die Spielregeln, die besagen, dass jeder bis zu 20 Stimmen abgeben darf. Prinzipiell sei das Werben um Stimmen nicht verboten. Problematisch werde das allerdings, wenn da auch Regierungen mittrommeln. Denn dann kann man nicht mehr von einem "apolitischen" Event sprechen.
Das "apolitische Event" ESC war immer schon politisch
Ein "apolitisches Event": Genau das ist ja das Credo der European Broadcasting Union, kurz EBU, die den ESC organisiert. Eigentlich ist das aber nur ein frommer Wunsch. Jeder Wettbewerb, bei dem Nationen gegeneinander antreten, ist quasi "per se" politisch. Bei Olympischen Spielen stellt sich ja alle vier Jahre dieselbe Frage… Und auch der ESC ist nie "apolitisch" gewesen, sagt Professor Hendrickx. "Seit den Anfängen in 1950er Jahren war er das nicht, in den letzten Jahren ist das aber immer schlimmer geworden."
Ein ganz berühmtes Beispiel ist das Mysterium, das den ESC von 1968 umgibt. Damals in London galt der Brite Cliff Richard mit seinem Song "Congratulations" als absoluter Favorit. Er landete am Ende aber nur auf Platz zwei, hinter dem spanischen Beitrag. Bis heute halten sich Spekulationen über gekaufte Juroren und Stimmenmanipulation. Angeblicher Auftraggeber: Der spanische Diktator Franco, der den Ruf seines Landes aufpolieren wollte.
Diskussion um Ausschluss: Situation in Israel ist nicht vergleichbar mit Russland
In modernerer Zeit haben Länder wie Russland oder Belarus auch immer versucht, die ESC-Bühne politisch zu instrumentalisieren. Beide Länder wurden inzwischen ausgeschlossen. Der Sieg der Ukraine im Jahr 2022 hatte wohl auch mit dem Krieg zu tun, den Russland einige Monate vor dem Wettbewerb gegen das Land entfesselt hatte. Und die Diskussion um die Teilnahme Israels am Eurovision Song Contest ist natürlich auch eine politische. Kritiker sagen, dass Israel nichts auf der ESC-Bühne verloren habe angesichts der Bilder aus dem Gazastreifen und der Ermittlungen gegen israelische Regierungsmitglieder wegen möglicher Kriegsverbrechen. Und da wird dann gerne auf den Ausschluss Russlands verwiesen.
Die EBU mache da aber einen Unterschied, sagt Medienwissenschaftler Jonathan Hendrickx. Im Fall Israels sei die Rundfunk- und Fernsehanstalt noch von der Regierung unabhängig, in Russland seien die Medien demgegenüber Teil des Staatsapparates. Eine eher formalistische Begründung also, die in der Außenwelt nur wenig überzeugend wirkt. Darüber hinaus sind der EBU aber die Hände gebunden, sagt Professor Hendrickx.
Ausschluss Israels auch in Zukunft utopisch
Es ist so: Die EBU kann nur einen Standpunkt einnehmen, wenn sie dafür von den angeschlossenen Sendern die Erlaubnis bekommt. Und da wird es kompliziert. Denn die Sender müssen dann erst mal einen Standpunkt einnehmen "wollen". Um es mal mit einem besonders prägnanten Beispiel zu sagen: Es ist schlichtweg undenkbar, dass eine deutsche Sendeanstalt den Ausschluss Israels fordert.
Einige Medienhäuser fordern nichtsdestotrotz eine Debatte innerhalb der EBU. Und die ist brotnötig, sagt Professor Hendrickx. Eine Debatte über Israel und auch über das Zuschauervoting. Ansonsten sehe er schwarz für den ESC…
Roger Pint