Peinlich, peinlich, peinlich. Der Westen, Europa, Belgien, alle scheinen sie gerade eben erst bemerkt zu haben, dass die lieben Herren Ben-Ali, Mubarak oder Gaddafi doch nicht die ehrbaren Staatsmänner waren, für sie man sie halten musste, zumindest gemessen an dem Empfang, der ihnen überall bereitet wurde.
Ben-Ali war bis vor kurzem noch Mitglied der "Sozialistischen Internationalen". 2005 fand in Tunis sogar - man höre und staune - der Weltinformationsgipfel statt. Kleine Klammer: Als bei besagtem Weltinformationsgipfel ein Gastredner öffentlich die Missachtung der Meinungsfreiheit in Tunesien kritisierte, wurde die Live-Übertragung unterbrochen. Peinlicher geht kaum ...
Muammar Al-Gaddafi hatte derweil noch im April 2009 noch sein Beduinen-Zelt im Garten von Schloss Val Duchesse aufgeschlagen. Wie schon 2004 wurde der selbsternannte Revolutionsführer und angeblich geläuterte Terrorpate von der EU hofiert, als wäre nichts gewesen.
Nicht nur, dass man vor allem mit Libyen lukrative Geschäfte machen konnte - spätestens, nachdem 2004 das Waffenembargo gegen Tripolis aufgehoben wurde. Beide, Libyen und auch Tunesien, waren ja zudem die Garanten dafür, dass die Flüchtlingsströme aus Zentralafrika spätestens an der Mittelmeerküste gestoppt wurden.
Ohne großartig bösen Willen an den Tag zu legen, kann man in diesem Zusammenhang behaupten, dass Europa Teile des Maghreb zu seinem Guantanamo gemacht hat. Indem man Autokraten mit einem zweifelhaften Verständnis von Menschenrechten sozusagen hochoffiziell mit der Eindämmung der Flüchtlingsströme Richtung Europa beauftragte, verlagerte man das Problem faktisch in einen rechtsfreien Raum. Die EU machte Folterknechte zu Grenzschützern.
Das nennt man - betont zynisch - eine "strategische Partnerschaft".
Und dann war plötzlich alles möglich. Es galt die alte Maxime, die einst der spätere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld prägte, als er sagte: "Nun gut, Saddam ist vielleicht ein Bastard, aber er ist unser Bastard". Nur muss man sagen: Die Amerikaner haben Saddam nie zum Ehrenvorsitzenden von Human Rights Watch ernannt - Libyen hingegen bekam sogar einen Sitz im UN-Menschenrechtsrat, unter anderem votierte auch Belgien dafür. Wie drückte es die Zeitung "De Morgen" aus: dann könnte man auch Marc Dutroux zum Verwaltungsratsvorsitzenden bei der Familienliga machen.
Armutszeugnis für Europa
Es wäre also müßig, jetzt allein die Wallonische Region als Beispiel für die allgemein grassierende Scheinheiligkeit zu brandmarken. Klar ist es aus heutiger Sicht lächerlich naiv, sich hinter einer Klausel zu verstecken, die ausgerechnet den mutmaßlichen Auftraggeber des Lockerbie-Attentats dazu verpflichtete, dass die nach Tripolis FN-Waffen nur zu humanitären Zwecken eingesetzt werden dürfen. Aber das bettet sich doch nur in den allgemeinen Kontext ein. Italiens Premier Berlusconi, immerhin der Regierungschef eines EU- und G8-Mitglieds, nannte Gaddafi allen Ernstes einen "Freund". Andere sagten es vielleicht nicht, handelte aber genauso.
Muammar Al-Gaddafi, der Mann, der vor der UN-Vollversammlung die Auflösung der Schweiz forderte - und auch schon meinte: "Wenn wir eine gemeinsame Grenze mit den Schweizern hätten, dann würden wir gegen sie kämpfen" - war Europas gern gesehener Geschäftspartner und liebster Grenzschützer.
Der Gipfel des Zynismus: Exakt dieser Umstand liegt jetzt auch noch in der Waagschale, wenn es um die Frage geht, ob die EU Sanktionen gegen Libyen und seinen mit dem Wahnsinn flirtenden Diktator verhängt. Allen voran Italien, aber auch andere Mittelmeer-Länder wie Zypern oder Malta sträubten sich bislang gegen Strafmaßnahmen. Sie fürchteten, Gaddafi könnte die Flüchtlingslager öffnen.
Und damit stellte sich die EU in ihrer Gesamtheit ein katastrophales und wohl folgenschweres Armutszeugnis aus. Was muss denn noch passieren, bis die EU mit ihren angeblichen Kathedralen der Freiheit und Demokratie endlich reagiert? Muss Gaddafi erst eine Atombombe über Bengasi abwerfen, oder - und das wäre tatsächlich durchaus denkbar - Senfgas gegen sein Volk einsetzen?
Erstens: Die Ächtung eines Menschenverächters kann doch nicht daran scheitern, dass man "möglicherweise" selbst Kollateralschäden abbekommt, wenn man Flüchtlinge denn schon als solche betrachten will. Und zweitens: Ist man in Rom oder Valletta denn blind? Das, was man dort zu befürchten scheint, wird ohnehin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreffen. Entweder, Gaddafi öffnet besagte Flüchtlingslager selbst, um eine neue Nebelgranate zu zünden. Oder er wird vorher aus dem Amt gejagt, und dann ist die Anarchie ohnehin perfekt.
Vertrauen verdienen
Das aufhalten zu wollen, was sowieso nicht zu vermeiden ist, das ist ja schon lächerlich genug. Dass man auf diesem Altar dann aber auch noch die Werte opfert, für die die EU steht, das macht die ganze Sache zu einem tragischen und nicht wieder gut zu machenden Irrtum. Und daran ändert auch der Umstand nichts, dass man in Brüssel sich jetzt doch noch zu bewegen scheint: Das Unheil ist schon angerichtet.
Europa verpasst sein Rendez-Vous mit der Geschichte. Reicht es denn nicht, inzwischen täglich mit den Fehlern der Vergangenheit konfrontiert zu werden? Muss man sie auch noch gleich wiederholen? Sieht man in Brüssel, Berlin, Paris oder auch Washington nicht ein, dass eine neue Zeit anbricht?
Man kann Demokratie als Staatsform nur propagieren, wenn man sie vorlebt. Stattdessen werden hier Grundwerte je nach Interessenlage außer Kraft gesetzt, stattdessen vermittelt der Westen gar zwischen den Zeilen den Eindruck, er halte Demokratie - je nach Lage - für die schlechtere (weil unberechenbarere) Alternative.
Bislang hat der Westen die arabischen Potentaten im Amt gehalten, weil sie schlicht und einfach genehm waren. Nur: Wer sagt denn, dass die Nachfolge-Regierungen nicht ebenso genehm wären - dann freiwillig? Allerdings muss man dafür das tun, was besagte gestürzten Autokraten schon versäumt hatten: das Volk mitnehmen. Wer Leute wie Gaddafi schont, und das aus reinem Eigeninteresse, der muss sich nicht wundern, wenn dessen Nachfolger von unseren angeblich universellen Werten nichts wissen will.
Wenn der Westen freundlich gesinnte Staaten will, dann kann man das nicht mehr direkt oder indirekt erzwingen, ab jetzt muss man sich das verdienen.
Kompliment und Zustimmung Herr Pint,
endlich mal ein (belgischer!!!) Journalist der es unverholen wagt, allen korrupten Politikern die Stirn zu bieten.
Da sich die meisten Menschen sowieso mit den Visionen von George Orwell ("1984"), bzw. Aldous Huxley ("Schöne neue Welt") abgefunden haben, müssen Persönlichkeiten wie Sie nicht nur anfangen die Gedankengänge der Wähler zu bewegen, sondern auch zu vertiefen.
Meine Bitte an Sie: Weiter so!
Gerhard Meyer
Wirklich ein hervorragender fundierter mutiger Kommentar.
Hut ab, Herr Pint, für diesen Kommentar !
Roger Pint gehört eh zu dem besten, was der BRF zu bieten hat.
Danke für diesen hervorragenden Kommentar, weiter so Herr Pint.
Endlich mal wieder jemand der die Dinge beim Namen nennt!
Solche Offenheit hat in den öffentlichen Medien (Mainstream) mittlerweile Seltenheitswert, es wird meist eher "politisch korrekt" informiert.
Wir brauchen mehr Journalisten wie Herrn Pint. Weiter so.
Ferdi Haesen
Danke, Herr Pint.
Ihre Beiträge sind immer wieder inspirierend !
Habe in den letzten Tagen in den Belgischen Medien nicht allzuviele Kommentare gelesen/gehört, die das Thema so "auf den Punkt" bringen und schließe mich den Glückwünschen an Herrn Pint an. Während man sich in Belgien noch Gedanken darüber macht, wie es passieren konnte, dass FN-Waffen und Munition trotz "Vereinbarung" nicht für ein humanitäres Ziel in Libyen eingesetzt werden konnte, übertreffen sich EU und auch die UNO in scheinheiligen Resolutionen und halbherzigen Maßnahmen(Einfrieren der Konten, Einreiseverbot,...).
Man kann dem was Herr Pint schreibt nur zustimmen! Dass die westlichen Regierungen nach wie vor die Grundtugenden Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit nicht berücksichtigen, sieht man schon daran, dass jetzt die nach Freiheit, Würde und Mitsprache strebenden Menschen in den nordafrikanischen Staaten mit ehemaligen Mitgliedern der korrupten Regime als neue Regierungschefs um den Erfolg ihrer mutigen Revolte gebracht werden sollen. Die einzige wirkliche Hoffnung die wir jetzt haben, ist die differenzierte und schnelle Informationsmöglichkeit durch das Internet, die noch nicht kontrolliert werden kann durch die Korporatokratie, siehe z.B. der überfällige Absturz des vorher künstlich hochgejubelten Kanzler in spe, jetzt Lügenbarons in Deutschland.